Beitrag zum 23.02.2020
Thema: »Ich bin nicht traurig. Ich fühle gar nichts.«
»Na, was darf’s sein?«, fragte der weißhaarige Elf in der schwarzen Kleidung und den rot funkelnden Augen Siraf, der eben an die Bar trat. Der Ritter wischte sich den Regen aus den Haaren und blickte den Elfen an, der ungeduldig wartete.
»Egal, irgendwas, was mich erinnern lässt«, antwortete Siraf und legte zwei Sølvi auf den Tresen.
Der Elf schnaubte. »Lass die Münzen stecken! Wir reden später über die Bezahlung.«
Siraf strich wortlos das Geld wieder ein und sah sich in der Spelunke um. Er war zum ersten Mal hier im Exil am Abgrund. Und wie es schien, war er der einzige Besucher, abgesehen von der Feantìe, die in der hintersten Ecke saß, wo die Musik – satte Bässe, harter Hall und düstere Riffs – am lautesten spielte. Ohne nachzudenken gesellte sich der Ritter zu der schwarzen Fee.
»Hast du was dagegen, wenn ich mich setze?«, fragte Siraf höflich.
Die Feantìe wies mit einer Hand auf den freien Platz und er setzte sich hin. Sein Gegenüber hatte schwarze, lange Locken, die bis zum Boden reichten. Daraus schloss Siraf, dass die schwarze Fee in der Blüte ihrer Lebensjahre stand.
»Ein Mensch verirrt sich selten hierher. Was erhoffst du dir, zu finden?«, flüsterte sie.
»Ich möchte mich erinnern«, erwiderte der Ritter und die Feantìe lachte schrill auf.
»Erinnerungen sind gefährlich. Vor allem für euch Menschen, seid ihr doch anfällig für Dämonen.«
»Nicht nur Menschen.« Der Elf war herangetreten und hielt ein Tablett in der Hand. Er stellte einen Krug mit einer undefinierbaren Flüssigkeit – es sah aus wie brackiges Wasser – auf den Tisch, dazu zwei Tonbecher.
»Du sprichst von dem Elfen, der sich auf der Flucht vor dem Kreuzzug befindet«, bemerkte die Feantìe.
»Ganz recht. Er ist mein Bruder, und er hat keine Ahnung, worauf er sich da einlässt. Niemand kann der Inquisition entkommen.«
Siraf nahm einen Schluck von seinem Getränk und musste an sich halten, um nicht zu würgen. Es schmeckte höllisch scharf, schärfer als alles, was er bisher getrunken hatte. Und er hatte bei weitem genug Erfahrung mit brandigen Getränken.
Aber es half. Erinnerungen tauchten auf. Er sah die Wüste, schmeckte schwarzen Sand auf der Zunge und hörte das Brausen des Windes. In seinen Händen ein Seil, rettete das ihm das Leben?
Im nächsten Moment schwarze Dunkelheit. Das Vergessen.
Siraf schlug mit der Faust auf dem Tisch.
»Ich bin nicht fröhlich. Ich bin nicht wütend. Ich bin nicht traurig. Ich fühle gar nichts.« Und das war die Wahrheit. Da war nichts in ihm.
»Ich will mich erinnern«, flüsterte er.
Die Feantìe beugte sich zu ihm. »Ich habe keine Erinnerungen. Und bin absolut zufrieden damit. Was zählt, ist das Jetzt. Löse dich doch. Glaub mir, das macht vieles einfacher.«
Der Ritter schüttelte den Kopf. »Zuerst habe ich getrunken, weil ich vergessen wollte. Doch dann war da dieses Seil… Es hing einfach in der Luft, ich nahm es und es legte sich um meinen Hals, zog sich mehr und mehr zu … Ich glaubte, zu ersticken … Ich – ich … bekomme … keine … Luft!«
Es war, als zöge sich etwas um seine Kehle zusammen, nahm ihm die Luft, bis er hilflos japsend nach Atem rang.
Ein Knurren ertönte. Siraf sah schwarzen Pelz, der auf ihn zuflog. Das Tier biss ihn in den Hals, aber tötete ihn damit nicht. Der Ritter spürte, wie etwas von ihm abfiel, nein, weggerissen wurde, mit aller Macht. Er konnte wieder atmen. Keuchend fiel er vornüber, mit dem Kopf auf den Tisch und anschließend zu Boden.
Vor ihm stand der Elf. Er hielt die Handflächen von sich gestreckt und fauchte zwei Worte: »Getdaach, Fionháir!«
Etwas klatschte wie eine Peitsche auf den am Boden zusammengekrümmten Ritter, einmal, zweimal. Zum dritten Mal kam es nicht, denn das Geräusch einer schneidenden Klinge ertönte.
Schrilles Lachen, triumphierendes Fauchen.
Der Elf beugte sich zu Siraf hinunter und legte ihm die Hand auf die Stirn. »Der Dämon ist weg. Er wird wiederkommen, aber er wird dich nicht finden. Denn ich bringe dich jetzt an einem sicheren Ort.«
Er spürte, dass er hochgehoben und hinausgetragen wurde. Dort wurde er in eine Decke gewickelt und auf einen Karren gesetzt. Der Elf saß neben ihm und legte ihm einen Arm um die Schultern.
»Du wirst nicht mehr derselbe sein, wenn du erwachst. Vielleicht wirst du dich wieder erinnern, aber die Erinnerungen werden dir fremd vorkommen. Als hätte sie ein anderer erlebt. Du bist nicht der Erste, den ich ins Sanrytarium bringe. Ich tue damit meinen Dienst, der mir aufgetragen worden ist. Mein weißer Bruder bändigt Dämonen und tötet sie, damit die Dreimachtgebieter ihre blauen Monster erschaffen können. Ich dagegen lasse die verlorenen Seelen am Leben und bringe ihre Opfer in Sicherheit. Und jetzt sag mir, wer von uns beiden den schlechteren Dienst verrichten muss!«
Siraf war zu geschockt und durcheinander, um zu verstehen, was der Elf sagte. Er verlor das Bewusstsein. Diesmal war er froh um die Dunkelheit, den Mantel des Vergessens.
»Ach, übrigens: Ich heiße Mørliga«, sagte der weißhaarige Elf und seine roten Augen leuchteten in der Dunkelheit auf wie zwei entfachte Flammen.