Beitrag zum 12.07.2020
Thema: »Luftschloss«
Seufzend klappe ich den dicken Wälzer zu. Es ist ein Wörterbuch mit drei Sprachen: Norwegisch, Schottisch-Gälisch und Hindi. Und natürlich die jeweilige deutsche Übersetzung. Wie dick und vor allem schwer das Buch ist, kann sich jeder vorstellen.
»Brauchst du Hilfe?«, fragt eine Stimme, bei der sich mir sprichwörtlich die Haare sträuben. Nein, oh nein! Nicht der!
Ich kneife die Augen zusammen, wünsche mir ganz fest, dass, wenn ich mich umdrehe, KEIN Gesicht im Spiegel ist, aber mein Flehen wird nicht erhört.
Mørliga grinst, als er meine Angst sieht. Natürlich. Seine Dämonen verkörpern schließlich die Sünden und so manch negatives Gefühl aller Lebewesen.
»Ich helfe gern«, fährt der dunkle Elf fort und seine Augen leuchten gefährlich. Ich schnaube.
»Seit wann das?«, frage ich höhnisch.
Mørligas Lächeln wird noch breiter, gefährlicher. »Du müsstest mich nur aus dem Spiegel freilassen!«
Ich zeige ihm einen Vogel. »Klar, und dann hinterlassen deine Dämonen hier eine Schneise der Verwüstung!«
»Du weißt ebenso gut wie ich, dass wir auf dich hören müssen …«
»Eben!«, falle ich dem Elfen ins Wort. »Und deshalb: NEIN! Was willst du eigentlich?«
Mørliga knurrt, und für einen Moment habe ich Angst, dass das Spiegelglas aus irgendeinem Grund zerbrechen und er doch herauskommen könnte.
»Ich möchte, wenn ich hier schon eingesperrt bin, wenigstens als Nächster das Licht der Welt sehen! So wie diese Brüder, die Zwillinge mit den englischen Namen.«
Mir klappt die Kinnlade runter. Er will was?
»Das … das ist nicht dein Ernst!«, krächze ich. »Ich wollte Nick und Lucy als Nächstes auf die große Fahrt schicken! Ich habe sogar schon das Raketenschiff für die beiden ein wenig vorbereitet!«
Mørliga knurrt wieder. Diesmal bekommt das Glas Risse. Oder bilde ich mir das ein? Unwillkürlich weiche ich einen Schritt zurück. Was soll ich tun, wenn Mør tatsächlich aus dem Spiegel steigt? Zwar habe ich als seine Autorin eine gewisse Macht über ihn, aber er ist einer dieser Figuren, die sich davon kaum beeinflussen lassen. Er hört vielleicht zuerst, macht jedoch wenig später das, was er will.
Vielleicht soll ich mir das mit seiner Veröffentlichung wirklich überlegen. Mørliga ist ein schwieriger Charakter, aber ich habe ihn im Laufe der Zeit, vor allem beim WriteInktober sehr ins Herz geschlossen.
»Was ist denn jetzt?«, faucht Mørli ungeduldig. Der Spiegel knirscht unheilverkündend. Hilfe! Was mache ich denn jetzt? Da fällt mein Blick auf das Fenster – und zum zweiten Mal innerhalb weniger Zeit überzieht eine Gänsehaut meine Arme. Der Kranich. Nicht der auch noch! Habe ich heute denn gar keine Ruhe vor den Erinnerungen und meinen bösen Figuren? Müssen sie mich unbedingt in meinem Luftschloss heimsuchen?