Beitrag zum 21.06.20
Thema: »Meeresrauschen«
Zhyan fand seinen Schüler am Strand, nicht weit von Tonash’s Palast. Der verbannte Prinz ging zu der kleinen Gestalt, die zusammengekauert im Sand saß und leise weinte.
Es gab keine Worte, die Jaris Schmerz zu lindern vermochten. Die Trauer über den Tod Guāshis war zu groß, ihr Mantel so fest um den Jungen gewickelt, dass dieser sich noch nicht daraus befreien konnte. Und jetzt auch noch die Nachricht von der Sonnenfinsternis. Zhyan wusste, dass Jari, trotz dessen, dass er nun fast alle Farben beherrschte, immer noch nicht in der Lage war, seinem Timchin die Stirn zu bieten. Seine Seele war ein willkommenes Plätzchen für die Oneirophoben. Wenn die Sonnenfinsternis kam, würden die Oneirophoben die Bacheras anlocken und das wiederum würde Abhvakaandra auf den Plan rufen.
Deshalb musste Jari schnellstmöglich die Farbe Violett lernen. Damit die Geister und Dämonen der Dunkelheit erst gar nicht in Versuchung gerieten, sich an Jari zu vergreifen.
Zhyan hätte seinen Schüler gern vor der Begegnung mit Abhvakaandra, dem Hüter des Dunkels, bewahrt, doch er konnte nichts tun, um sie zu verhindern. Er war einzig und allein in der Lage, Jari zu beschützen, sollten die Bacheras sich ihren Weg zu dem Jungen suchen. Seinem Timchin musste Jari selbst Herr werden.
Der verbannte Königssohn legte seinem Schüler den Arm um die Schultern. Sofort lehnte dieser den Kopf an Zhyans Schulter.
»Es tut so weh!«, flüsterte Jari. »Er ist … fort.«
Zhyan schluckte und sah auf das Meer. Er hörte das Meeresrauschen; Wellen, die sich an den Felsen brachen. Und mitten in der Melodie einen Ruf.
»Willst du ihm die letzte Ehre erweisen?«, fragte Zhyan.
Jari hob den Kopf. »Wie denn? Ich kann ja noch nicht einmal alle Farben!«, murmelte er niedergeschlagen und wischte sich mit der Hand über die Augen.
Sein Shikyan lächelte.
»Ich helfe dir!«
Der Junge überlegte sichtlich und stand schließlich auf. Die Augen fest auf einen Punkt am Horizont gerichtet, atmete er langsam ein und aus. Dann ließ er das Rot frei. Sogleich schossen wie aus dem Nichts Flammensäulen links und rechts neben ihm hervor. Jari machte einen Ausfallschritt nach vorne, stieß die geballten Fäuste gen Himmel, und das Feuer wirbelte um ihn herum, tanzend, spielerisch. Nun spürte Zhyan die Hitze und im nächsten Moment schienen die Flammen gleißend hell aufzulodern. Sie blendeten ihn, und der junge Mann hielt sich die Hand über die Augen. Orange und Gelb waren da. Wie Reifen umkreisten sie Jari, der mit den Füßen Kreise auf dem Sand zog. Grünes Licht strömte aus der Brust des Jungen. Er stand still, breitete die Arme zur Seite, warf den Kopf zurück und schrie stumm. Aus seinem Mund entwich eine Wolke in Türkis. In Zeitlupentempo, die Augen fest zusammengekniffen, führte Jari die gefalteten Hände mit den Fingerspitzen voran an seine Stirn. Zwischen den Fingern floss ein Strom Blau hervor.
Zhyan jubelte innerlich. Langsam, ganz langsam, glitten Jaris Hände, immer noch gefaltet, über den Haarschopf bis zum Mittelpunkt seines Kopfes. Jetzt musste Zhyan eingreifen. Er schloss die Augen, und in Sekundenbruchteile war er da: Der Farblichtkrieger. Alle sieben Chakren waren aktiviert, das Lila des Kronenchakras tanzte zwischen Jaris und Zhyans Farben hin und her, vermischte sich mit ihnen. Schüler und Lehrer bewegten sich im Einklang, und die Farben folgten ihnen, bis sie auf das offene Meer losgelassen wurden. Und dort über dem Rauschen, entstand ein Bild der Erinnerung ihres gemeinsamen Freundes. Guāshi, der sich in Drojhidã verwandelte. In dem Moment hörten Jari und Zhyan mit den Bewegungen auf. Sie standen still und sahen zu, wie die Farben mit Drojhidãs erschaffenem Bild in die Ferne entschwanden und der Geist des Drachen als silberner Streif am Horizont zu sehen war.