Beitrag zum 01.01.2020
Thema: »Neuanfang«
BLAKE
Eigentlich habe ich vorgehabt, draußen auf Joshua zu warten. Doch er ist nicht gekommen, deswegen habe ich geklingelt. Zoé hat geöffnet und mir gesagt, Josh und Chad würden bald heimkommen. Und dann hat sie mich gefragt, ob ich reinkommen und etwas trinken wolle.
Jetzt sitze ich hier auf der Terrasse im Sonnenschein und nippe an einem kühlen Wasser.
Zoé wirft mir aus den Augenwinkeln neugierige Blicke zu. Das große Fragezeichen auf ihrer Stirn ist nicht zu übersehen. Ich traue mich nicht, etwas zu sagen. Zum Glück bricht sie das Schweigen.
»Du bist nicht der, für den dich alle halten, stimmt’s?«
Ihre Frage bringt mich dazu, den Kopf zu ihr zu drehen und in ihre Augen zu blicken.
»Meinst du den Jungen, für den der Wald ein besseres Zuhause ist als sein richtiges? Oder redest du von dem Kerl, der von den meisten für einen Irren gehalten wird, weil er mit einer Steinschleuder und einem Damastmesser herumläuft?«, erwidere ich mit enger werdender Kehle.
Sie blinzelt, hält jedoch weiterhin Blickkontakt. »Weder noch. Du bist jemandem sehr ähnlich. Jemand, der sich genauso verloren geglaubt und sich von der Welt im Stich gelassen gefühlt hat. Dieser Jemand war …«
Ich. Ich war es, Mum!
»… David, mein ältester Sohn. Was mit ihm passiert ist, weißt du bestimmt.«
Oh ja, das weiß ich zu gut. Unwillkürlich fahre ich mit den Fingern zuerst über das eine dann das andere Handgelenk. Fast schon erstaunt betrachte ich die unversehrte, blassweiße Haut, unter der die Adern bläulich schimmern.
Zoé holt tief Luft. Ihr Atem geht schnell, und ich merke, wie sie einige Male kräftig schluckt.
»Es war seine Entscheidung. Ich wünsche mir nur manchmal, dass ich ihn ein letztes Mal umarmen könnte. Ihm zeigen, dass ich ihn geliebt habe.« Sie hält inne und schließlich spüre ich, wie etwas in ihr zerbricht.
»Ich war, quatsch, ich bin eine schlechte Mum!«, stößt sie hervor und verbirgt das Gesicht in den Händen.
Nein, nein! Erschrocken hebe ich die Hand, will sie schon auf Zoés Schulter legen, doch im letzten Moment entsinne ich mich, dass ich das lieber nicht tun sollte. Ich darf mich nicht verraten.
Eine Frage drängt sich in mir auf, aber ich warte, bis sich mein Gegenüber ein wenig beruhigt hat, ehe ich sie stelle.
»Angenommen, David würde vor dir stehen, was würdest du ihm sagen?«, murmle ich leise.
Zoé hebt den Kopf, mustert mich und richtet den Blick anschließend in die Ferne. Tränenspuren verblassen auf ihren Wangen.
»Dass es mir unendlich leid tut! Ich würde ihm sagen, wenn ich die Chance bekäme, nochmal ganz neu anzufangen, dann würde ich alles anders machen. Homosexualität ist keine Krankheit. Es ist Liebe, so wie bei allen anderen auch. Nichts Verwerfliches und auch nichts Abnormales. Sondern eins der größten Gefühle, die man mit einer Person teilen kann. Und es ist egal, ob diese Person eine Frau oder ein Mann ist.«
Ich habe mit allem gerechnet. Aber ganz bestimmt nicht mit diesen wunderschönen Worten, die meine Seele umschmeicheln. Bevor sich eine eiserne Faust darum legt und sie zu zerquetschen droht.
Sterne tanzen vor meinen Augen. Schwindel erfasst mich. Das alles dauert nur einen winzigen Moment. Langsam atme ich ein und aus. Was war denn das gerade?
Zoés Blick ruht auf mir, und schlagartig ist mein drohender Bewusstlosigkeitsanfall vergessen. Diese lauernde Miene kenne ich. So werden Joshua und Chad immer angeschaut, wenn sie was ausgefressen haben.
»Einen Neuanfang also …«, sage ich, um Zoé auf andere Gedanken zu bringen und von mir abzulenken.
»Ja«, erwidert sie schlicht.
Es wird Zeit.
Ich stehe auf, frage, wo die Toilette sei, und gehe hinein, nachdem Zoé mir den Weg erklärt hat. Bevor ich in der dunklen Diele verschwinde, sehe ich zurück. Zu Mum, die mit hängenden Schultern da sitzt und von Schuldgefühlen übermannt wird. Ich möchte nicht von ihr weg. Aber ich muss.
»Sayonara!« Mein Flüstern hallt in der Diele wider, und es ist eine schöne Vorstellung, wie Zoé das Echo hört.
Dann wende ich mich ab und gehe.