Beitrag zum 08.07.2020
Thema: »Walzer«
Die Taste des CD Players wird gedrückt. Ich spüre Lucys Hände auf meinem Körper. Meiner Hüfte. Eine Hand fasst mit unendlicher Sanftheit nach meinen Fingern. Kleine, zarte Fingerspitzen, deren Griff mir jedoch Stärke und Sicherheit vermittelt.
Lucy. Das Licht in der Dunkelheit, die hinter den Augen herrscht, seit jenem schrecklichen Unfall, bei dem nicht nur meine Schwester gestorben ist, sondern auch meine Sehkraft.
Und doch sehe ich seitdem so viel mehr.
Zum Beispiel das flammende Herz der Freundschaft, welches zu Lucy, einem unscheinbaren Mädchen aus meiner Klasse gehört. Einem Mädchen, für das ich längst viel mehr als Freundschaft empfinde.
Michael Patrick Kelly singt von der Rose Jerichos. Die Rosen mit ihren Dornen, die uns hier, im Rosengarten von Oma Käthe in dem geheimen Versteck, welches meine Schwester und ich zusammen aufgebaut haben, vor den schlechten Erinnerungen beschützen. Verletzend und zugleich ein Symbol der Liebe. Hier haben die dunklen Wolken der Traurigkeit und der Sturmregen der Emotionen keinen Platz.
Ich passe mich Lucys Rhythmus an. Der Tanz hat nicht mehr viel mit einem normalen Walzer gemein. Für mich ist es ein Ausdruck der Gefühle. Gestik und Mimik ineinander vereint. Ein Lächeln auf den Lippen, Gänsehaut an den Armen, wohlige Schauer, die über den Rücken tanzen.
Die Musik, die mich durchströmt wie ein Wasserfall. Der Moment. Mit Lucy.
Letzte Takte verklingen; die Saiten der Gitarre verstummen, hallen nach in meinem Herzen. Unwillkürlich befreie ich mich so vorsichtig wie möglich aus Lucys Griff und umschlinge ihren schlanken Körper mit den Armen. Zuerst versteift sie sich, dann sinkt ihr Kopf gegen meine Brust, und ich halte sie. In einer Umarmung, wie sie nur von denjenigen kommen kann, die einen aufrichtig und von ganzem Herzen lieben.
Die Worte klettern meinen Hals empor, liegen auf der Zunge, doch ich spreche sie wohlweislich nicht aus. Das Band der Freundschaft könnte dadurch reißen, und das will ich nicht riskieren.
Vielleicht ist es noch zu früh, ihr zu sagen, dass ich sie liebe. Aber warum Worte verschwenden, wenn schweigende Gesten so viel mehr ausdrücken können?
Es ist mittlerweile längst dunkel; wir sind schon eine Ewigkeit hier im Rosengartenversteck. In meiner Fantasie spannt sich über uns ein heller Sternenhimmel. Tausendmilliarden Lichtpunkte, Geister der Verstorbenen, ferne Planeten; sie sind Zeugen, wie ich Lucy einen hauchzarten Kuss auf den Schopf gebe und in Gedanken jene Worte ausspreche, deren Geheimnis bis jetzt nur die Nacht kennt. Jene Nacht, in der meine Gefühle Walzer tanzen. Eine Nacht voller Nähe. Umarmungen. Und einem neuen Band, das aus dem Faden der Freundschaft wie ein Ast von einem Baum abzweigt.