Beitrag zum 17.11.2020
Thema: »Aus alter Zeit«
Wir setzen uns auf die Couch in der Küche und lauschen dem tobenden Gewitter. Die Vergangenheit holt mich ein. Ich taste vorsichtig nach Lucys Rücken und lasse die Finger hinauf zu ihrer Schulter wandern. Lucy lehnt den Kopf an meinen Arm und stößt die Luft aus.
„Scheiß Gefühl, was? Als wäre alles so wie gestern!“, murmelt sie.
Zur Antwort nicke ich und streiche sanft über ihren Arm. Sogar in meiner Nase haftet noch der Geruch des Todes. Aber in meinem Herzen hat sich ein leichter Frieden eingefunden, der wie ein Mantel um meine Seele geschlungen ist. Die Vergangenheit erzählt Geschichten aus alter Zeit, und obwohl ich nicht an Geister glaube, so spüre ich, dass Oma Käthe von ihrem Haus noch nicht Abschied genommen hat.
„Halt mich für bescheuert, aber … Es fühlt sich so an, als wäre sie noch hier“, sagt Lucy.
„Nein, du bist nicht bescheuert.“ Ich drücke sie kurz an mich. Ihr Haar streift mein Kinn, und unwillkürlich neige ich den Kopf, um es, wie vorhin, ganz leicht zu küssen.
Im letzten Moment halte ich inne. Nein, es ist zwar schmerzhaft, den Erinnerungen zu lauschen, aber Lucy hilft mir, sie auszuhalten. Lucy. Mein Licht in der Dunkelheit.
„Ich spüre es auch“, sage ich und denke, dass dieser Augenblick, in dem sich Trauer um den Verlust und das Band, gewebt aus den Sternen des Universums, zusammenfinden und miteinander tanzen, so wie Lucy und ich vorhin im Rosengarten, zu kostbar ist, um ihn durch die drei kleinen, aber mächtigen Wörter zu zerstören.
Ich liebe dich, Lucy.
Freunde. Nur Freunde. Das ist es, was wir vorhin besprochen haben.
Abwarten und schauen, was passiert.
Was, wenn ich zu lange warte? Wenn Jannis mir zuvorkommt? Schon wieder diese Fragen…
Lucy holt mich mit einer festen Umarmung in die Wirklichkeit zurück. Sie nimmt mein Gesicht in die Hände, und für einen Moment erfüllt mich der Gedanke mit Sehnsucht, dass die lose Abmachung, die wir geknüpft haben, wie ein zerschnittenes Band lautlos zu Boden fallen wird.
Ich liebe dich.
Verboten. Nur Freunde.
Einige Herzschläge lang verharren wir so. Lucys Hände sind warm, und ihr Atem streift meine Nasenspitze. Ich beuge den Kopf vor, öffne den Mund…