Beitrag zum 07.07.2021
Thema: »Antipathie«
Es half nichts. Auch am nächsten Tag musste ich in die Schule. Wieder ein Albtraum in der Nacht. Wieder Augenringe, fallende Lider, hinter denen sich ungeweinte Tränen stauten.
Ich konnte nicht mehr.
Lustlos und völlig fertig trottete ich über den Schulhof. Simon war in meinen Gedanken; er lachte, tanzte.
Warum musste er sterben?
Da waren sie. Die Tränen, die nicht aufhörten.
»Na, Heulsuse?« Jenny. Hatte Kilian ihr nicht zu verstehen gegeben, dass sie sich von mir fernhalten sollte?
Ich hob den Kopf. Erstarrte.
Sie standen im Halbkreis vor mir. Drei Jungs und Jenny. Angriffslustig, bereit, sich auf mich zu stürzen. Aber das war es nicht, was mir Angst machte. Es waren auch nicht die schrecklichen Brandblasen auf Jennys Händen.
Einer der Jungs hatte eine Musikbox an seiner Hose hängen. Lose Yourself von Eminem drang in ohrenbetäubender Lautstärke an mein Ohr. Warum war das so laut?
Auch das wurde mir in diesem Moment klar. In dem Moment, in dem die Sonne sie wie ein Scheinwerfer anstrahlte, und ich die Schatten erblickte. Albtraumgestalten, Monster. Und unter ihnen Riaghor.
Ich stieß einen Schrei aus, und das war das Signal. Alle gleichzeitig stürzten auf mich zu. Sie schubsten mich, zogen an meinen Haaren, und ich schlug um mich, biss zu und erwischte tatsächlich mehrere Hände, Finger und Jacken.
»Anouk! Ihr verdammten Idioten! Lasst sie in Ruhe!«, vernahm ich eine energische Stimme.
Kilian!
Doch der junge Mann mit den langen Haaren und dem Bart, der mich herauszog, fort von den Händen, war nicht Kilian. Mein Halbbruder stand mit geballten Fäusten neben mir, bemerkte meinen Blick und kniete sich neben mich. Seine Arme schlangen sich um mich und sofort fühlte ich wieder jene Sicherheit, die ich seit dem Unfall spürte.
Es war still. Mein Retter befand sich Auge in Auge mit meinen Klassenkameraden. Sie sahen aus, wie eine in die Enge getriebene Hühnerschar. Der Typ flüsterte etwas, zu leise für uns, aber die anderen verstanden es. Sie stoben auseinander und liefen in alle Himmelsrichtungen davon.
Kilian ließ mich los, als der Fremde auf uns zukam, seine Hand jedoch legte sich auf meine Schulter. Eine Wärme ging von ihr aus, als würde er in Flammen stehen. Mir fielen die Brandblasen ein und unwillkürlich zuckte ich zusammen.
»Hab keine Angst. Ich kann dich nicht verbrennen«, murmelte Kilian. »Außerdem, die Zeiten, in denen ich dir wehgetan habe, die sind vorbei.«
Ja. Er hatte recht.
Der junge Mann musterte uns mit schiefgelegtem Kopf. »Ihr seid also die Unruhestifter. Kein Wunder, dass die Kinder nachts nicht mehr schlafen können.«
»Das ist nicht unsere Schuld!«, gab Kilian zurück. Es war deutlich zu sehen, dass er den Typen nicht mochte. Ich aber war ihm dankbar, dass er mich gerettet hatte, deswegen beschloss ich, meine Antipathie abzulegen und wenigstens ein wenig freundlich zu sein.