Beitrag zum 05.09.2021
Thema: Unsichtbarer Abgrund
»Brrr, ist das kalt!« Rikhon zog seinen Mantel fester um sich und blickte ebenso finster drein wie die grauen Wolken, die über ihnen hinwegzogen.
»Das heißt nur, dass wir auf der richtigen Fährte sind«, erwiderte Dhunya fröhlich und hakte sich bei ihm unter. Ihr schien die Kälte nichts auszumachen.
Rikhon legte seiner Freundin einen Arm um die Schultern und grinste. »Ich freue mich schon auf das Gesicht des Schneeschwanwolfs, wenn wir ihm gegenüberstehen.«
»Und ich freue mich auf das herrliche Kleid aus seinen Federn!«, frohlockte Dhunya und lachte.
Ein Windstoß brachte den Geruch nach Schnee mit sich und einen Laut. Rikhon und Dhunya blieben stehen.
»Hast du das gehört?«, flüsterte Rikhon und griff nach seinem Revolver. Dhunya hatte ihre Axt gezogen und hielt sie einsatzbereit in den Händen. Wachsam sahen sie sich nach allen Seiten um.
Plötzlich stürzte etwas von oben auf sie herab! Rikhon wirbelte herum. Ein Schuss krachte, als der Angreifer die Pistole aus seiner Hand fortschleuderte. Federn flogen herum und versperrten dem Chronistenkrieger die Sicht. Jemand knurrte. Rikhon, seiner Waffe beraubt, ballte die Faust und schlug nach demjenigen, der ihn attackierte.
»Rikhon!«, hörte er Dhunya schreien.
Zähne bohrten sich in seinen Arm, und er brüllte auf vor Schmerz und Wut.
»Weg von meinem Freund, du Bestie!« Mit einem Kampfschrei stürzte Dhunya heran und schwang ihre Axt. Ein Jaulen ertönte, womöglich hatte sie einen Treffer gelandet.
So schnell es sein verletzter und blutender Arm zuließ, rappelte Rikhon sich auf und griff nach seinem Dolch, als er den Schneeschwanwolf erblickte. Jiin stieß sich vom Boden ab, drehte eine Runde in der Luft, nur um wie ein Falke mit geöffnetem Maul auf Dhunya zuzuhalten. Die Zwergendame wich geschickt aus und brachte den Wolf mit einem gezielten Axthieb zu Fall.
Rikhon schnappte sich derweil seinen Revolver und setzte den Lauf auf die Stirn des Himnadhyi. Sofort schien alles Leben zu erstarren. Doch dann ertönte leises Lachen.
»Wir Krieger verdienen es, unser Leben im Kampf zu geben. Dazu werden wir geboren. Auch du wirst eines Tages dem Ruf der ewigen Schlachten folgen. Manche hören ihn bereits im Schlaf.«
Aus eisblauen Augen fixierte der Wolf den Chronistenkrieger. »Na los, schick mich in die ewigen Lufthöhlen. Lass mich nicht leiden.«
»Normalerweise sollte ich das aber tun!«, zischte Rikhon. »Du hast Fanó in den Abgrund geschickt und ihn Seelenqualen erleiden lassen!«
»Nein«, entgegnete Jiin ruhig. »Das war nicht ich. Shokân ist der Schuldige. Aber Dämonen können weder du noch ich zur Rechenschaft ziehen. Übrigens musst du dich darum nicht kümmern, denn der schwarze Elf hat den Dämon schon verbannt. Und er wartet darauf, dass er meine Seele an einen neuen Ort bringen kann.«
Misstrauisch beäugte Rikhon die Umgebung. Bewegte sich dort hinten am Baum etwas? Nein, er musste sich getäuscht haben.
»Rikhon, erledige ihn!«, drängte Dhunya und starrte hasserfüllt auf den Wolf, der nicht einmal blinzelte.
Rikhon spannte den Hahn. Doch bevor der Schuss ertönte, schloss Jiin die Augen und tat seinen letzten Atemzug.
»Was …?« Völlig verwirrt senkte Rikhon den Revolver. Er hob den leblosen Wolfskörper an und entdeckte einen Messerbumerang, der unter dem rechten Flügel tief in der Haut steckte.
Immer mehr Federn lösten sich von den Schwingen des Himnadhyi und bedeckten ihn. Ein weiches Grab.
Dhunya trat neben Rikhon und umarmte ihn. »Es ist vorbei«, sagte sie und küsste ihn. Dann sammelte sie die losgelösten Federn ein und nahm anschließend seine Hand. »Komm, lass uns gehen. Mich friert.«
Widerstandslos ließ er sich fortführen.
Niemand von ihnen hörte bewusst das Lied, welches kurz darauf erklang. Es wurde von dem Elfen gesungen, der auf dem Baum saß. Mørligas Stimme trug die Traurigkeit aus dem Herzen in die Welt hinaus. Über seine Wangen strömten Tränen.