Beitrag zum 12.02.2020
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Die weiße Taube in meinem Traum erinnert mich an ein Kinderbuch. Die Brüder Löwenherz von Astrid Lindgren. Früher habe ich die Geschichte geliebt. Heute steht das Buch im Regal, direkt neben dem Schallplattenspieler und einem Foto im gläsernen Rahmen. Alles drei Zeugen einer längst vergangenen Zeit.
Jedenfalls weiß ich, dass die weiße Taube nicht einfach so erscheint. Im Buch steht sie für Jonathan, der gestorben ist und seinen kleinen kranken Bruder erlöst und ihn ins Land Nangijala mitnimmt. Nangijala ist die Zwischenwelt; eine Grenze zwischen Leben und Tod. Diese Welt kann man nur im Traum erreichen.
Die weiße Taube hat für mich aber noch eine andere Bedeutung: Mein Nachbar, der mir ein dritter Opa und der beste Freund war, den ich je gehabt habe (und ich habe bisher nie wieder einen solchen Menschen getroffen!), hatte in seinem Garten Brieftauben. Und zwar ausnahmslos schneeweiße Tauben. Im Frühling hat er mir immer die kleinen Jungvögel gezeigt. Wenn er die Jungen aus den Nestern nahm, büßte er von der Mutter böse Kratzer und Schnabelhiebe ein. Das kümmerte ihn allerdings wenig. Er sprach so ruhig mit den Tauben, als wären es Kinder.
Wenn ich an ihn denke, kommen mir die weißen Tauben in den Sinn. In meinem Traum geleitet mich jener Vogel über eine schneebedeckte Ebene hin zu einem Garten. Seinem Garten. Alles ist mit Schnee bedeckt. Ich schließe das kleine Tor hinter mir und in dem Moment kommt der kleiner Pudel Angie angerannt. Er freut sich total mich zu sehen und ich ebenso. Natürlich springt er wie immer auf die kleine Bank im Vorhäusl, das natürlich im Traum auch da ist. Klopft mit der Rute und wartet ungeduldig darauf, dass ich ihm das Geschirr anlege und die Leine befestige. In wenigen Minuten ist alles fertig und Angie führt mich zielsicher durch den Garten, der viel größer ist, als normalerweise.
Wir gehen lange spazieren. Stapfen durch den Schnee. Angies schwarzes Fell wird weiß. Das sieht sehr lustig aus. Lachend laufe ich los, der Hund hintendrein. Er überholt mich und flitzt voraus. Wir kommen zu einer großen Gartenschaukel. Ich erkenne sie sofort. Wie viele Stunden habe ich dort verbracht, mit meinem Nachbarn. Nachmittage voller Geschichten, angenehmen Schweigen, Gelächter. Es war unsere kleine Oase. Eine Insel, fern vom Alltag. Auf dem Tisch davor stehen zwei Tassen und eine Kanne mit Tee. Es duftet aromatisch nach Früchten und Kräutern.
Die Sonne scheint, der Schnee blendet mich. Ich schirme mit der Hand meine Augen ab und entdecke ihn. Meinen besten Freund und dritten Opa. Er lächelt mich an und begrüßt mich mit den altbekannten Worten: »Die Lena ist da! Was gibt’s Neues?«
Ich grinse ihn an, lasse mich neben ihn fallen; Angie verzieht sich unter die Gartenschaukel und schnauft selig.
Dann erzähle ich ihm von der Uni, meiner anstehenden Buchveröffentlichung und dass ich viel spazieren gehe und dabei jemanden ganz doll vermissen würde. Als hätte Angie verstanden, dass sie gemeint ist, springt sie auf meinen Schoß und ich streichle das flauschige Fell und breche in Tränen aus.
Mein Nachbar reicht mir eine Tasse Tee, und ich nehme sie und trinke. Mir geht es sogleich besser.
»Ich habe ein langes Leben gehabt. Nicht immer leicht, aber doch sehr schön. Es ist gut. Es ist gut.« Er mustert mich mit dem speziellen Lächeln. »Und ich bin sehr stolz auf dich! Fang was mit deinem Leben an, mit den Möglichkeiten.«
Ich vergrabe meine Nase in Angies Fell. Er scheint meine Gedanken zu erraten.
»Ich bin froh, dass sie so gehandelt haben. Dir mag es vielleicht gemein vorkommen, und es ist nachvollziehbar, dass du so denkst. Aber sie hatten nur das Beste für dich im Sinn. Einen Hund einzuschläfern, ist eine furchtbare Entscheidung. Ich weiß wovon ich rede, und du weißt, dass ich dir keinen Schmarrn erzähle.«
Ich sehe ihn an und nicke. Ja, es war eine sehr schmerzhafte Zeit, aber es war dennoch das Beste. Angie schmiegt sich an mich und leckt meine Finger. Dann verzieht sie sich wieder unter die Gartenschaukel, klopft mit der Rute auf den Boden und in dem Moment weiß ich, dass das, was geschehen ist, das Richtige war.
Ich trinke den letzten Schluck Tee, und Angie kommt wieder hervor, geht einige Schritte und sieht mich abwartend an.
»Ich muss gehen!«, sage ich zu meinem besten Freund. »Danke für den Tee. Ciao!«
Er brummt gutmütig: »Pfiade!« Und zu Angie sagt er: »Geh mit der Lena mit.«
Der kleine Pudel und ich laufen über die schneebedeckte Weite bis hin zum Tor. Dort sitzt eine schneeweiße Taube. Sie gurrt, als sie mich sieht.
Angie bellt, als ich das Tor öffne, und ich drehe mich um. Sie hat Sitz gemacht und hebt eine Pfote, wie um mir zuzuwinken. Ich winke zurück, fahre ihr nochmal über den flauschigen Kopf und sie wedelt mit dem Schwanz.
Dann folge ich der schneeweißen Taube zurück in unsere Welt. Zu den Lebenden.