Beitrag zum 26.04.2020
Thema: »Alte Traditionen«
»Dorli, wo bleibst na? Mia miassn fahrn!«, ruft Fips genervt. Dass seine Schwester sich auch immer so lang im Bad aufhalten muss! Haare waschen, föhnen, kämmen, Augen schminken. Dabei haben sie Arbeit! Das Wirtshaus ihres Vaters würde morgen endlich verkauft werden. Gott sei Dank! Philipp ist froh, dass er ab morgen wenigstens diese Last los sein würde. Ein bisschen schämt er sich ja schon. Kaum eine Woche ist der Wirt unter der Erde, und er, der mit seiner Schwester das "Boandlkramer" geerbt hat, will das Lebenswerk seines Vaters verkaufen. Es bleibt mir ja nichts anderes übrig. Ich hab keinen Bock, mich damit abzugeben. Schließlich bin ich kein Unternehmer, sondern noch Student. Fips studiert Mediale Künste in München. Was er danach machen möchte, weiß er noch nicht. Was er allerdings weiß, ist, dass er auf keinen Fall bis zu seinem Ableben in dem muffigen Kämmerlein hocken und verzweifelt die roten Zahlen anschauen will. Oh nein! Er hat die Schnauze voll vom »Boandlkramer«, wo er und Dorli fast ihre gesamte Kindheit und Jugend verbracht haben. Ab ihrem elften Lebensjahr mussten sie mithelfen; Geschirr spülen, Bestellungen aufnehmen, putzen und saubermachen. Viel Freizeit hatten sie nicht. »Wer faul is, der konn si schleicha! Den brauch i ned!«, hatte Woifi immer gesagt und dann das Geschirrtuch in der Hand durch die Luft schnalzen lassen. Das Geräusch klingt Fips immer noch in den Ohren. Er schüttelt sich. Ihr Vater hatte seine Kinder nie geschlagen, denn er wusste, die Drohung reichte vollkommen aus. Ernsthafte Angst hatten Fips und Dorli nie gehabt, jedoch Respekt. Woifi hatte ihnen alle Freiheiten gelassen, getreu dem Motto: »Macht’s, wos woits, aber übertreibt 'ses ned!« Und das hatten sie nie.
Dorli kommt die Treppe runter. Sie trägt eine braune Lederhose und eine weiße Bluse mit Rüscherl.
Fips verkneift sich das Lachen. Typisch Dorli! An alten Traditionen fanden sie beide keinen Gefallen. Ihr Vater hatte sie immer ausgeschimpft, wenn er Dorli in »Mannskleider« rumlaufen gesehen hatte. »Du bist a Madl und koa Bauerntrampel!« Irgendwann hatte er es einfach akzeptiert, so wie fast alles.
»Mia kenna fahrn!« Dorli schnappt sich die Autoschlüssel.
Vorm »Boandlkramer« wartet schon der erste Stammgast. Gidi, der immer lustige Geschichten am Stammtisch erzählt. Als er Fips und Dorli sieht, knurrt er: »De junga Leit heitzudogs wissn nimma, wos Pünktlichkeit is! Wo soi des no hiführn?« Aber die junga Leit wissen, dass er das nicht so ernst meint. Sein Feierabendbier stimmt Gidi sowieso wieder froh. Fips hantiert hinten in der Küche zusammen mit Lenz, seinem besten Kumpel und dem Freund von Dorli. Sie bereiten das Essen vor: Knödel und Spätzle mit Soß‘ und Rinderbraten, Schnitzel mit Pommes und andere bayerische Spezialitäten. Dorli bedient derweil mit Maral die Gäste. Es ist das letzte Mal für immer.