Beitrag zum 26.05.2024
Thema: Kleingeld
In der Stadt Eagstéd gab es zu viel von allem. Siraf fühlte sich erschlagen von den Menschen, die sich in den engen Gassen tummelten. Auf dem Marktplatz war fast gar kein Durchkommen zwischen den zahlreichen Ständen. Das Stimmengewirr übertönte sogar die Glocken der beiden Kirchen, die zu jeder vollen Stunde erklangen.
Endlich schaffte er es, in eine kleine Seitengasse zu entkommen. Am anderen Ende blitzte das Schild eines Wirtshauses auf. Siraf schluckte. Seitdem er aus dem Sanrytariom entlassen worden war, hatte er einen großen Bogen um Tavernen und Spelunken gemacht. Denn die letzte Art von diesen Orten hatte ihm das Leben, das er nun lebte, erst verschafft. Oder vielmehr der Besitzer.
Weiße Haare.
Rote Augen.
Die Menschen draußen waren allesamt mit sich selbst beschäftigt. In einem Wirtshaus dagegen wurden Fremde nicht gleich mordlustig angeguckt oder gar körperlich bedroht. Außerdem verbreiteten sich Neuigkeiten nirgendwo schneller als dort.
Wenn jemand etwas über diesen verdammten weißhaarigen Elfen mit den roten Augen wusste, dann würde er ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit im Wirtshaus finden.
Siraf atmete tief durch und ballte die Hand zur Faust. Dann trat er aus der kleinen Gasse und hielt auf das Gebäude zu. Blumenkästen schmückten die Fenster, und auf dem Hausschild war ein singender Heinzel gemalt. Über der Tür hing ein Schriftzug: Zum Singenden Heinzel.
Auch drinnen herrschte eine freundliche Atmosphäre. Es waren nicht viele Gäste da, der Wirt – Siraf stellte mit Erleichterung fest, dass es ein Mensch war – unterhielt sich mit einem langhaarigen, älteren Mann, der aussah, als sei er weit umhergereist. Eine Familie saß an einem Tisch beisammen und das Gelächter der Kinder erfüllte den ganzen Raum. Ganz hinten, am letzten Tisch, las ein kleines Mädchen in einem Buch. Das hellblonde, lange Haar fiel ihm in die Stirn. Es schien allein hier zu sein.
Siraf trat an die Bar und winkte den Wirt zu sich. Der junge Mann lächelte ihn an.
»Willkommen, Reisender! Was kann ich für dich tun?«, fragte er.
»Ich hätte gern ein Bier und … einen Teller von dem Wildgemüseauflauf.« Siraf blickte dem Wirt in die Augen. »Und da wäre noch eine Frage.«
Der Mann nickte und pfiff leise. Daraufhin erschienen fünf Heinzel, die Besteck und einen Teller brachten und vor Siraf hinstellten. Anschließend blieben sie auf dem Tresen stehen und starrten ihm stumm an, als warteten sie auf etwas.
Amüsiert zwinkerte der Wirt Siraf zu. »Sie wollen als Dank ein Lied. So läuft das hier: Der Kunde stimmt ein Lied an, und die Heinzel singen und sind doppelt so schnell bei der Arbeit. Falls du ihnen im Anschluss ein Trinkgeld geben möchtest, so sing mit ihnen zusammen.«
Siraf zog die Augenbrauen hoch und nahm die Hand aus seiner Hosentasche, in dem sich Kleingeld befand. Ein Lied also. Das war zumindest eine bessere Bezahlung als das letzte Mal. Da hätte er fast mit seinem Leben bezahlt.
Er räusperte sich, dann fing er an zu singen: »Am Anfang der Zeitalter
Verfolgten drei Feantìe den Schrei des Herzens…«
Die Heinzel sangen munter weiter, während sie geschäftig hin und her liefen und die Bestellung vorbereiteten. Einer von ihnen tanzte sogar und schnitt fürchterliche Grimassen.
»Du kennst die Ballade der Feantìe?«, fragte der langhaarige Mann und trat näher an Siraf heran.
Siraf nickte und schluckte. Da war ein Bild in seinem Kopf; eine Gestalt in einer dunklen Ecke, bernsteinfarbene neugierig dreinblickende Augen, ein lockiger Haarschopf.
War das seine Erinnerung? War er einer Feantìe begegnet?
»Bist du schon mal einer begegnet?«, wollte der Reisende wissen.
»Ich … ich weiß es nicht!«, murmelte Siraf.
Ihm war übel. Der Wirt musterte ihn aufmerksam. »Was ist das für eine Frage, die du mit dir herum schleppst?«
Siraf atmete tief durch. »Ich suche jemanden. Einen weißhaarigen Elfen. Er hat rote Augen. Habt ihr von ihm gehört oder kennt ihr ihn?«
Der Wirt zuckte mit den Schultern. »Ich kenne nur einen Elfen. Vielleicht fragst du ihn. Er sitzt dahinten.« Er wies mit einer Handbewegung auf den Tisch, an dem das blonde kleine Mädchen saß. Nur, dass es kein Mädchen war. Jetzt entdeckte Siraf die spitzen Ohren, die zwischen einigen Haarspitzen hervorlugten.
Dieser Elf sah so anders aus als derjenige, dem er in der Ruinenstadt begegnet war. Alles an ihm wirkte zart und unschuldig. Wie ein Kind. Der andere Elf hatte gefährlich und eisern entschlossen gewirkt. Was er auch gewesen war.
Siraf nahm seinen Teller und sein Bier, das ihm inzwischen gebracht worden war, und ging an den Tisch. Die Übelkeit nahm zu.
»Sei gegrüßt. Darf … darf ich mich setzen?«, sagte er mit zitternder Stimme.
Der Elf hob den Blick von seinem Buch. Er hatte grüne Augen, die ihn misstrauisch musterten.
»Ja. Aber rechne nicht damit, dass du auch wieder aufstehen wirst.« Er grinste, und plötzlich war alle Unschuld aus seinem Gesicht verschwunden.
Siraf schluckte. Womöglich hatte er sich geirrt.
Der Elf hier schien noch gefährlicher zu sein.