Beitrag zum 26.01.2020
Thema: »Heimatlos«
Erinnerst du dich an unsere zahlreichen Ausflüge an den See? Sommerabende voller Lachen, Freiheit, begreifbar gemacht durch die letzten Strahlen der untergehenden Sonne, dieses Gefühl von Abenteuerlust, untermalt von psychedelischen Woodstockliedern aus dem alten Transistorradio meines Vaters.
Wir waren vierzehn beziehungsweise fünfzehn, zwei beste Freunde, die sich von der harten Realität eine Pause gönnen wollten. Am Himmel zogen zwei Kampfflugzeuge ruhige Kreise.
Du hast mir von deinem Wunsch, Pilot zu werden, erzählt.
Ich weiß nicht, ob er sich erfüllt hat.
Wir fühlten uns wie Vagabunden, als wir nach Sonnenuntergang durch den nahe gelegenen Wald streiften. Kamen völlig zerkratzt und schmutzig nach Hause. Es war schon spät, aber noch früh genug, um keinen Anschiss von unseren Eltern zu bekommen.
An einen dieser Tage erinnere ich mich besonders. Es war der, an dem uns einige ältere Jungs das Transistorradio wegschnappten. Sie kamen her, und ich sah sofort, dass sie auf Ärger aus waren. Wir konnten nicht mehr fliehen, denn sie hatten uns bereits umzingelt.
Sie machten sich über dich lustig. Dir war die Angst anzusehen, und ich wartete nur darauf, dass irgendeiner von den Kerlen dir zu nahe kam. Als einer dich schubste, stürzte ich mich auf ihn und schlug zu. Der Typ war viel zu überrascht, um sich zu wehren. Er lachte anschließend, obwohl das Blut nur so aus seiner Nase strömte. Ich rechnete damit, dass er mich verprügeln würde, doch er schnappte sich nur das Radio und machte sich mit den anderen vom Acker. Sie wollten bloß das Radio haben. Sie hatten uns Angst machen wollen, indem sie dich geschubst haben. Sie hätten uns nichts angetan.
Das war der Grund, weshalb ich monatelang für ein neues Transistorradio sparte. Meinem Vater erzählte ich nichts von dem Diebstahl. Er hätte mich verprügelt und wäre anschließend zur Polizei gegangen.
So einen Typ wie den, mit dem ich mich angelegt habe, gibt es auf dem Frachter nach Arkadien zuhauf. Mit dem Unterschied, dass die Häftlinge zurückschlagen und auch vor weit Schlimmerem nicht zurückschrecken.
Allerdings machen sie das nur, wenn es nicht anders geht. Da ich mit niemandem Streit anfange und alle um meinen besonderen Status hier an Bord wissen, lässt man mich und meine Kumpels in Ruhe.
Ich stehe an Deck und beobachte zwei Flugzeuge, die am Himmel ruhige Kreise ziehen. Moyz steht neben mir und sagt unvermittelt: »Wenn ich so auf den Ozean schaue, dann fühle ich mich, als würde ich nirgendwo zuhause sein.«
Ich verstehe, was er meint. Auch ich fühle mich auf dem Frachter in seltenen Momenten wie ein Vagabund, ein Heimatloser, ein rastloser Getriebener, der nirgendwo zuhause ist. Der das Gefühl hat, die ganze Welt sei seine Heimat.
Moyz und ich sehen uns an. Wir denken dasselbe.
Heimatlos zu sein, die Sehnsucht nach dem einen Ort, die haben wir beide, du und ich, schon als Kinder verspürt.
Ich hoffe, du erkennst auch irgendwann, dass Heimat nicht nur ein Platz ist. Ein Haus. Sondern, dass Heimat überall auf der Welt sein kann. Man muss nur den richtigen Menschen an seiner Seite haben.