Beitrag zum 28.04.2021
Thema: »Verfluchtes Blut«
»Wo willst du hin?«, fragte sie. Mørliga blieb vor dem Spiegel stehen und drehte sich um.
»Das weißt du.«
Die Blutfrostmagd wurde bleich wie das Eis an der Spitze des höchsten Turmes ihres Hauses.
»Sie wird dich umbringen!« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Er sah sie an. Hoffnungslosigkeit. Sie war überall. Jeder Spiegel zeigte sie ihm. Die Kraft, mit der die Blutfrostmagd Rache an denjenigen genommen hatte, die ihr wehgetan hatten.
Mørliga lächelte. »Ich habe vor dir mehr Angst als vor der Seelenschinderin.« Wie um seine Worte zu unterstreichen, ertönte von draußen Wolfsgeheul.
»Siehst du, sogar Karabalt stimmt mir zu.«
Dann erlosch das Lächeln. »Du weißt, was ich suche. Und dazu brauche ich deine Hilfe. Du bist die Einzige, die weiß, wie man das verfluchte Blut bändigen kann.«
»Ich kann Wasser bändigen, aber kein Blut!« Sie war wütend. Ihr rotes Haar bauschte sich auf und mit geballten Fäusten trat sie auf Mørliga zu.
»Selbst wenn du es schaffst, Temájkil zu überzeugen – was dir nicht gelingen wird, das kann ich dir gleich sagen – und du tatsächlich den Splitter erhältst, musst du das verfluchte Blut erst einmal finden. Nicht einmal ich weiß, wer es in sich trägt. Es gibt so viele Flüche, die auf Wesen lasten. Warum opferst du so viel für jemanden, der schon längst tot ist? Warum willst du ihm wieder das Leben schenken? Es geht nie gut aus, wenn man Tote zu Lebenden weckt!«
Die Blutfrostmagd hatte recht. Aber Mørliga spürte, wie die Trauer wieder von ihm Besitz ergriff. Und die Wut. Auf sich selbst. Es war seine Schuld, dass das alles passiert war. Jeden anderen Tod der Feantìe hätte er wohl verkraftet, aber Whouinaccs war so unnötig gewesen! Whouinacc, sein Stammgast, sein Zuhörer, sein Ratgeber … sein Freund?
Ja, die Feantìe war eine der wenigen Wesen gewesen, die er so bezeichnete. Freund und Familie.
»Ich bin es ihm schuldig. Mehr als das.«
Sie blickte ihn an. Sein Schmerz spiegelte sich in ihren Augen. Die Blutfrostmagd seufzte, und winzige Eiskristalle tanzten in der Luft, bis Mørliga die Hand darum schloss und sie erstickte. Warum nur konnte man die eigenen Gefühle nicht ebenso leicht fortwischen?
»Also gut. Ich komme mit dir. Schließlich habe ich nicht umsonst hier auf dich gewartet. Und ich möchte dich nicht so schnell gehen lassen! Eabynal wird zwar nicht begeistert sein, und wahrscheinlich wirft Vold unsere Seelen Temájkil vor, aber ich vertraue Morto. Der Tod macht mein Leben hier erträglich. Ich habe mit Brimarthan ein Zuhause, das ich oben nie hatte.«
Weil du nur die grausame Seite einer Familie kennengelernt hast, so wie ich, dachte Mørliga. Aber ich weiß, dass es Wesen gibt, die dir das schenken, was du nie bekommen hast. Und ich werde dafür sorgen, dass du diese Erfahrung ebenfalls machst.