Beitrag zum 28.06.2020
Thema: »Rettung in letzter Sekunde«
Es klang alles so vielversprechend! Ein sehr gut vergütetes Forschungsprojekt in einem Heim, ein Semester lang, studentenfreundliche Arbeitszeiten sowie Unterkunft und Essen vor Ort, natürlich kostenlos. Spätestens da hätte ich es merken müssen. Aber wir dachten uns nichts dabei. Wir, die fünf Studenten einer philosophisch-theologischen Fakultät, wollten unser wegen der Corona-Pandemie ausgefallenes Praxissemester nicht hintendran hängen. Das Heim war die einzige Stelle, die sich bereiterklärt hatte, uns im Rahmen eines Forschungsprojektes aufzunehmen und das Praxissemester somit anerkennen zu lassen. Wie sich herausstellte, hatten sich auch andere Studenten von anderen Universitäten und Fachhochschulen für dieses Projekt beworben. Insgesamt waren es, glaube ich, 38 Leute, die schlussendlich genommen wurden. Welches Losverfahren dahintersteckte, weiß ich nicht.
Ich weiß nur, dass ich mich niemals hätte bewerben dürfen.
Denn die Forschungsobjekte, die Probanden, das sind … wir selbst. Habt ihr schon mal vom Stanford-Prison-Experiment gehört? So läuft das hier ab. Mit einem gravierenden Unterschied: Ein Experiment kann man notgedrungen abbrechen, wenn es aus dem Ruder läuft. Zumindest, wenn man die Maßstäbe nicht an die „Welle“ von Morton Rhue legt. Aber selbst da hat der Abbruch funktioniert. Wohl auch, weil dort keinem der Tod so nahe war.
Hier ist das anders. Ich strotzte vor einem Monat nur so vor Gesundheit.
Jetzt liege ich bewegungsunfähig in einem Krankenbett, an Apparaten angeschlossen. EEG und EKG laufen, die durchsichtige Flüssigkeit in dem Infusionsbeutel träufelt wie Gift in meine Venen. Gift, das mich willenslos macht. Meinen Körper regungslos und meinen Willen schwach. Was noch nicht angegriffen wurde, ist mein Geist. Ich bekomme alles mit, was um mich herum geschieht.
»Benji muss gewickelt werden! Beeil dich und komm dann zu mir! Wir werden zusammen einkaufen gehen.« Das ist die Stimme der Leiterin. Ich habe ihren Namen vergessen. An den des Mädchens, das zu mir tritt und anfängt, mich auszuziehen, erinnere ich mich problemlos. Lyra. Wir haben zusammen das Abi gemacht, haben hin und wieder miteinander geplaudert. Mehr nicht. Zumindest von meiner Seite aus. Bei ihr war das anders. Keine Ahnung, ob sie sich eine Beziehung vorstellte oder nur Freundschaft wollte.
Irgendwie ist es witzig, bedenkt man die Tatsache, dass ich jetzt nichts mehr tun kann, um sie zurückzuweisen. Ich bin ihr ausgeliefert. Und leider nutzen manche Mitarbeiter das aus. Es hat fast sechs Personen gebraucht, ehe sie mich überwältigen konnten. Ich bin Kampfsportler. Dreifacher Schwarzgurt, Taekwondo, Karate und Aikido. Dazu noch den höchsten Grad im WingTsun. Und mit Kickboxen habe ich auch mal angefangen. Zwei der sechs riesenhaften Kerle können im Mädelschor singen, wenn sie je wieder aus dem Krankenhaus rauskommen. Die anderen vier machen mir hier das Leben so schwer wie möglich. Dazu brauchen sie jetzt keine Gewalt mehr.
Ich schließe die Augen, versuche, die aufkommenden Erinnerungen zu verdrängen und mich auf Lyra zu konzentrieren. Sie ist fertig. Ich schenke ihr ein Lächeln. Immerhin, meine Gesichtsmuskeln funktionieren noch.
»Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns nochmal wiedersehen, Benji!«, murmelt sie leise. Ja, ich auch nicht.
Lyra blickt in meine Augen. Ich sehe ihre Angst. Wie lange wird sie das hier durchstehen? Was wurde ihr bereits angetan? Fragen, deren Antworten ich lieber nicht wissen möchte.
Die Tür geht auf. Dumpfe Schritte. Eine Person taucht neben mir auf; ich sehe nicht, wer. Sie packt Lyra hart an, denn meine ehemalige Klassenkameradin schreit auf. Ich will ihr so gerne helfen. Ich will diesem Kerl in die Eier treten, dass er nicht mehr aufsteht! Aber ich bin hier gefangen.
Lyra wimmert, macht jedoch keine Anstalten, sich loszureißen. Was tut dieser Feigling ihr an? Ein zorniger Schrei, ein dumpfer Schlag, Aufjaulen und dann wütendes Gebrüll und verängstigtes Weinen. Was soll ich tun? Ich kann nicht mal um Hilfe rufen!
»Hey! Lass sie in Ruhe!«, brüllt auf einmal jemand. Diese Stimme kenne ich! Das ist Jorin. Er ist Soldat bei der Bundeswehr. Woher ich das weiß? Ich habe Augen und Ohren. Ich erfahre viele Dinge.
Ein kurzes Wortgefecht, anschließend knallt die Tür zu. Jorin tröstet die völlig aufgelöste Lyra. Mann, das war wohl Rettung in letzter Sekunde!
Ich sehe Lyras Gesicht über mir. Aus ihren Augen quellen Tränen. Jorin hat einen Arm um ihre Schultern geschlungen. Auch sein Gesicht ist über meinem.
Ich sehe beide ernst an. Ich hoffe, Jorin erkennt meine Dankbarkeit und Lyra den Trost darin.