Beitrag zum 15.04.2020
Thema: »Fehlendes Vertrauen«
Als ich auf meinen Platz ging, lagen alle Blicke auf mir. Mein Herz schlug, am liebsten wäre ich abgehauen. Ich sah, wie zwei Mädchen miteinander tuschelten, und fühlte Zorn in mir aufwallen. Sie kannten mich doch gar nicht! Wer oder was gab ihnen also das Recht, über mich herzuziehen? Entschlossen, mir nichts anmerken zu lassen, setzte ich mich auf den freien Stuhl. Kaum saß ich, wollte ich nichts lieber, als aufzuspringen und wegzurennen. Tränen brannten mir in den Augen. Aber Weinen war keine Lösung. Warum war ich so ein Weichei? Normalerweise hielt ich Demütigungen aus, das hatte ich im Heim gelernt. Allerdings war mir dort niemand fremd gewesen. Hier schon.
Der Unterricht verlief so, wie ich es kannte. Jedoch gab es einen gravierenden Unterschied: Wenn jemand eine Frage falsch beantwortete, wurde er nicht bestraft. Das erstaunte mich, ebenso die Tatsache, dass es eine große Pause gab. Während alle Kinder nach draußen strömten, blieb ich sitzen, weil ich nicht wusste, was ich tun sollte.
»Hey, soll ich dir das Schulhaus zeigen?« Ein Junge stand vor mir. Braune, wuschelige Haare fielen ihm in die Stirn und sanfte, fast schon schwarze Augen musterten mich freundlich.
Ich sagte nichts. Ich wollte nicht mit ihm mitgehen! Als ich nicht antwortete, trat er einen Schritt auf mich zu und instinktiv duckte ich mich und ballte die Fäuste, den Blick fest auf ihn gerichtet. Er merkte sofort, dass er anscheinend eine Grenze überschritten hatte, denn er machte einen Schritt zurück, wandte sich um und ging zur Tür. Dort drehte er sich nochmal um.
»Ich heiße Maik. Ich bin schon etwas älter als ihr, fünfzehn. Warum, das möchte ich nicht sagen. Ich weiß schließlich nicht, ob ich dir vertrauen kann.«
Ging mir mit ihm genauso. Was dachte sich der Kerl? Und warum – natürlich fragte ich mich das, schließlich war es nicht normal – besuchte er noch die Schule, wenn er so alt war? Im Heim mussten die Kinder in dem Alter arbeiten. Putzen, bei den Bauarbeiten helfen, sowas eben.
Maik lächelte mich auf einmal an, und ein wohliges Kribbeln überzog meinen Körper. Es war ein Lächeln, das etwas in mir auslöste. Ich spürte eine Art Vertrautheit. Das war mir völlig neu. Dieser Junge wollte mir nichts Böses, dessen war ich mir auf einmal ziemlich sicher. Ansonsten hätte mein Körper nicht so reagiert.
»Ja, ich will gern das Schulhaus sehen, Maik.« Meine Stimme klang fest und klar. Ich stand auf und marschierte zu ihm.
»Mein Name ist Laura.«
Maik neigte den Kopf und streckte mir die Hand hin, die ich ohne Zögern ergriff. Sie war warm und der Druck fest, aber auf angenehme Weise. Dann ließ er sie wieder los und ging voraus. Und ich folgte ihm, schloss auf und ging dicht neben ihm her. Jedem anderen wäre ich in Sicherheitsabstand gefolgt. Nicht Maik.