Beitrag zum 04.11.2020
Thema: »Zwietracht«
Da stand er. Der dunkle Herrscher über die Albträume. Sie waren ebenfalls da. Monster mit grausigen Fratzen. Unter ihnen die Drachen und Wölfe. Was hatte Kilian noch gleich gesagt? »Alle Geschöpfe Riaghors tragen den Schrecken, den sie bringen, irgendwo auf ihrer Haut oder ihrem Pelz. Einzig die Drachen und Wölfe aber haben ihn in den Augen.«
Ja, ich sah die Bosheit in den Augen. Es kostete mich alle Selbstbeherrschung, nicht zurückzuweichen. Mein Herz schlug fest, das Fell in meinem Nacken sträubte sich. Riaghor blickte mich aus finsteren Augen, schwarz wie eine immerwährende Dunkelheit, an.
»Ihr habt etwas, das ich gerne an mich nehmen möchte«, sagte er mit einer Stimme, die genauso boshaft klang, wie ich sie mir vorgestellt hatte.
»Wir geben es dir aber nicht!«, knurrte ich.
Riaghor legte den Kopf schief. »Kleine Wölfin, sei doch nicht so dumm!«, schnurrte er liebenswürdig, doch ich ließ mich weder einschüchtern noch täuschen.
Bevor ich aber etwas Unüberlegtes sagen oder tun konnte, mischte sich Simon ein.
»Was willst du wirklich, Riaghor? Den Traumsand vergiftest du doch schon seit Ewigkeiten, der ist doch für dich völlig wertlos!« Fest sah der Schattentänzer den Herrn der Albträume an.
Riagohr blickte von mir zu Simon, dann von ihm wieder zu mir und schließlich zu Kilian. Ein überlegener Ausdruck schlich sich auf seine Miene. Die Albtraumgestalten wurden aufdringlicher, ungeduldiger. Vor allem die Drachen und Wölfe gebärdeten sich wild, als wollten sie uns auf der Stelle zerfetzen.
»Du willst Kilian und mich, stimmt’s?«, erkannte ich plötzlich. Ja, natürlich! Riaghor hatte zwei seiner Albtraumgeschöpfe verloren, weil diese sich Adargoth und dem Schattentänzer angeschlossen hatten!
»Tut mir leid, aber ich habe mich entschieden. Der Schattentänzer ist Teil meiner Familie. Bitte lass Kilian und mich in Ruhe. Du brauchst uns doch gar nicht. Du hast genug Albträume.« Zuerst dachte ich, dass meine Worte Riaghor zum Nachdenken bewogen, denn der Nachtmahr blieb eine geraume Weile stumm. Dann jedoch sprach er. Schneidend, wie ein Schwert, das durch den Wind fegt.
»Mir fehlt eure Kraft. Ich brauche euch. Und ich bläue euch die Schrecken der Nacht wieder ein, das schwöre ich! Ihr gehört mir! Ihr seid meine Geschöpfe!« Er machte eine Bewegung, und die Drachen und Wölfe sprangen als Erste vorwärts. Direkt auf mich zu. Gesträubtes Fell, geifernde Mäuler und vollkommene Bosheit in den Augen. Mein Herz klopfte wie wild. Jetzt werden sie mich töten!, schoss es mir durch den Kopf. Aber da schoben sich rote Schuppen vor mich, und im nächsten Moment war die Luft erfüllt von der Hitze des gewaltigen Feuerballs, den Kilian ausspie. Der Drache fauchte so wütend, dass die Albträume überrumpelt stehenblieben.
»Habt ihr durch die ewig geschürte Zwietracht mit den Träumen vergessen, was Wölfe und Drachen miteinander verbindet? Erinnert ihr euch nicht mehr an das Heulen, das uns Traumsandbringern die Pforten des Mondes geöffnet hat? Wölfe und Drachen haben einen Pakt geschlossen: Freundschaft bis in die Ewigkeit! Jeder Wolf, jeder Drache kennt die Geschichte! Aber der Pakt gilt immer noch! Heute, jetzt, für immer! Also lasst Anouk in Ruhe und überdenkt lieber, für wen ihr regelmäßig diese Pforte durchschreitet!« Nach Kilians Rede war es still. Sogar Riaghor schwieg. Die Drachen und Wölfe waren wie erstarrt. Langsam senkten sie die Köpfe. Und dann geschah etwas Unglaubliches. Sie, die Geschöpfe Riaghors, warfen einen letzten Blick auf ihren Herrscher, in den Augen alle Bosheit, die sie bisher ausgezeichnet hatte, und verwandelten sich in goldene Sandkörner.
Simon regte sich als Erster. Er tanzte umher und sammelte den neuen Traumsand ein. In meiner Brust regte sich etwas. Wildheit. Ich knurrte, und dann warf ich den Kopf zurück und stieß ein lautes Heulen aus.