Seit Einstein wissen wir, dass Zeit relativ ist. Aber nicht nur Zeit hat diese Angewohnheit, sondern auch anderen Dinge, wie zum Beispiel Temperaturen. So ereignete sich vor Jahren in den Osterferien mit der Familie diese Kuriosität.
Die Osterferien sollten zu einem Schneeurlaub genutzt werden. So buchte meine Mutter eine Ferienwohnung in dem beschaulichen Balderschwang. Wie der Name richtig vermuten lässt, ist es ein Kaff am A... der Welt. Nun eingefleischte Skifahrern ist dieser Ort ein Begriff und natürlich Kunstexperten, aber das ist eine andere Geschichte.
Also Balderschwang, ein Ort nahe der österreichischen Grenze, der im Winter also in der Zeit mit Schnee von der deutschen Seite aus nicht erreichbar war, da der Riedbergpass normalerweise in den letzten Jahrhunderten bei Schnee nicht zu passieren war. So war die Bevölkerung sommertags Bergbauern und im Winter Schmuggler. Aber ich komme vom Thema ab.
Als wir auf der Hinfahrt Oberstdorf erreichten, sahen wir einen mondänen Wintersportort im frühlingshaften Grün und mit blühenden Blumenrabatten. Da war nichts mit Skifahren, so begann hier das Aprés-Ski wohl schon des Morgens. Langsam erklommen wir, nun ja eigentlich die Familienkutsche mit meinem Vater am Steuer, den Riedbergpass. Die Straße war gut ausgebaut und von fröhlichen Frühlingsblühern gesäumt. Wir, also meine Schwester, mein Bruder und meine Wenigkeit waren schon enttäuscht, keinen Schnee zu sehen. Als wir die Passhöhe erreichten, konnten wir einige versprengte Schneeplacken erhaschen. Es reichte vielleicht für eine Schneeballschlacht. Es ging wieder talwärts und erfreulicherweise wurden die Schneefelder immer größer. Dort, wo die Sonne nicht so hinkam, hatte sich der Schnee von Weihnachten gehalten.
Dann erreichten wir endlich das beschauliche Balderschwang. Die kleine Kirche, das Pfarrhaus, der Kiosk, der Ski- und Rodelverleih mit Skischule, einige Pensionen und eine handvoll Bauernhöfe. Es war sehr überschaubar. Vermutlich gab es in der Wintersaison einen Einwohneranstieg um 700% oder so ähnlich. Der Sonnenhang erblühte in einem Meer aus gelben Butterblumen und die Skilifte auf der gegenüberliegenden Seite brachten die Sportler nach oben. So musste das sein. Der Platz vor der Ferienwohnung war mit hohen Schneebergen umgeben und verhießen uns noch den nötigen Winterspaß.
Nun denn, obwohl die gelben Blumen uns schon den Frühling verhießen, gab es in der Nacht mal eben einen erfreulichen Meter Neuschnee.
So konnten wir in den nächsten Tagen der winterlichen Sportbetätigung frönen. Am Wochenende sollte es erneut zu einer Bevölkerungsexplosion, auf Grund von Tagesausflüglern, kommen.
Wir saßen gegen 14 Uhr auf der Terrasse in der Sonne und genossen diese. Selbstverständlich waren wir eher leicht bekleidet, um nach dem Winter zu Hause endlich genug Sonne tanken zu können. Wir überlegten, wie warm es wohl in der Sonne sein könnte. So entschied sich mein Bruder, zum Kiosk zu gehen, da dort neben der Tür und vortrefflich in der Sonne ein großes Thermometer hing. Also schlüpfte er barfuß in seine Turnschuhe und wollte, lediglich mit kurzer Sporthose bekleidet, über die Straße laufen. Als er gerade über die Schneewehe sprang, fuhr eine Oberklasselimousine mit Münchener Kennzeichen vor. Der Fahrer, ein älterer Herr im schweren mit Fell besetzten Ledermantel stieg gerade aus, um die hintere Tür zu öffnen. Heraus kamen zwei Kinder, dick in damals modernen Schneeanzügen eingepackt und natürlich mit Schal, Mütze und Handschuhen gegen die drohende Kälte bestückt. Die Beifahrerin, scheinbar die Großmutter der kleinen Wonneproppen, trug ihren Fuchsfellmantel zur Schau. Unterdessen hatte mein Bruder den Kiosk erreicht.
„Boah. In der Sonne sind 36°“ rief er zu uns herüber, die wir in unseren Bikinis auf der Terrasse standen und gespannt auf das Ergebnis der Ablesung warteten.
Elegant hüpfte er wieder an den entsetzt schauenden Neuankömmlingen vorbei.
Wie gesagt, nicht nur Zeit, sondern auch Temperatur ist durchaus relativ.