Im letzten Jahrtausend, als ich noch die Schulbank drückte, war es wohl in der achten Klasse, als wir im Altbau direkt unter dem Dach untergebracht waren. Natürlich mit Schrägen und Gauben wie es sich für einen guten Altbau gehörte. Es war schon eine Herausforderung, alle Tische und Stühle so aufzustellen, dass alle ihren Platz erreichen und auch die Tafel erblicken konnten. Die letzte Reihe war wie die letzte Bank im Bus, mit ohne Aussparung für den Gang. Just diesen mittleren Platz nannte ich mein eigen. So hatte ich einen vortrefflichen uneingeschränkten Blick auf die Tafel. Leider war diese Aussicht keine Einbahnstraße, wenn ihr mich richtig versteht, und die Lehrer hatten ein allzu wachsames Auge auf mich. Aber hat uns dies jemals gestört? Jeder weiß, dass wir alles ausprobierten und wir fühlten uns selbstredend als die Erfinder des Abspickens in jeglicher Form. Ganz abgesehen von den Streichen, die wir auch selbst erdachten oder waren es doch unsere Eltern oder gar Großeltern?
Nun denn, es war wieder einer dieser Tage, die unter dem Dach eine unerträgliche Hitze entstehen ließen, anscheinend war Sommer. Anders kann ich mir nicht erklären, dass alle Fensterflügel weit offen standen. Natürlich ohne irgendwelche Sturzsicherungen, so einen Unfug gab es in den 80er Jahren nicht. Vermutlich, weil wir wussten, dass der Weg nach unter weit und tief war, das wollte nicht wirklich jemand ausprobieren, der heimische Apfelbaum reichte da vollkommen aus. Aber ich schweife ab. Es soll hier ja nicht um Äpfel gehen, die bekanntlich aus Nachbars Garten am besten schmecken.
Wo war ich? Ach ja. Alle Fenster waren geöffnet. Wir hatten gerade Englisch bei Miss D. Eine Dame mit einer reichlichen Leibesfülle ausgestattet. Leider gab es damals noch nicht Ulla Popken, die solch stattliche Damen mit ansehnlicher Kleidung versorgte. Vielmehr wurden diese armen Frauen von Designern eingekleidet, die glaubten, dass großzügige Blumenmuster vorteilhaft wären. Tragen Rosen auf? Nun waren diese Kleider vom Design her auch eher, nennen wir es, fragwürdig. Ein einfacher gerader Schnitt, der betont nichts betonte und irgendwo in Knielänge endete. Es wirkte wie ein Sack mit Blumenmuster. Vielleicht legte Miss D. auch nicht sonderlich viel Wert auf modischen Schnickschnack. Wer weiß.
Irgendwie langweilte ich mich und überlegte, was ich mit dem zusammengeknüllten Papier anstellen sollte. Der Weg zum Papierkorb, der strategisch günstig neben der Tür stand, schien mir zu weit und hielte bestimmt einen Tadel für mich bereit, da ich mich ungefragt durch die Klasse bewegte. Ja damals war das so, da durften wir nicht einfach aufstehen und zum Papierkorb schlendern. Kurzerhand nahm ich Schwung und beförderte das nun unbrauchbar gewordene Papier im hohen Bogen aus dem Fenster. Natürlich blieb dies nicht von Miss D. unbemerkt. Erst zuckte ihr Gesicht missbilligend, dann brachte sie erst sich in Position und hernach ihre Körpermasse in Wallung, um dann wie ein wütender Stier oder auch wildgewordener Bulldozer auf mich zuzustürmen. Ihre Reaktion geschah erwartungsgemäß äußerst schnell, aber eigentlich in Zeitlupe ob ihrer körperlichen Begebenheiten. Wie sie so auf mich zurollte, ihr erinnert euch an meinen exponierten Platz im Gang, konnte ich nicht umhin laut zu lachen. Heute nennt man das, glaube ich rofl. Endlich stand sie vor mir.
„Du hast etwas aus dem Fenster geworfen!“ Herrschte sie mich an und erhob mahnend den rechten Zeigefinger, wie es damals noch üblich war.
Leider konnte ich mich vor Lachen kaum halten und es dauerte eine kleine Weile, bis ich wieder Luft bekam.
„Ich? Wie?“ Brachte ich schließlich japsend hervor, „ich habe doch gar nichts in der Hand.“ Wobei ich ihr meine leeren Hände präsentierte.
Miss D. stutzte, schaute erst auf mich, dann auf das geöffnete Fenster. Ihre Miene wurde versöhnlich, sie drehte sich um und murmelte etwas, das wie „Stimmt“ klang und ging zurück zum Pult.
Verdutzt blickte ich ihr hinterher. Natürlich hatte ich nichts mehr in Händen, wenn ich es gerade hinausgeworfen hatte. Na ja, bestechende Logik des Alltags, die irgendwo nahe des Wahnsinns angesiedelt war.