Lumniuz seufzte und bot seinem alten Freund einen Platz an. Sogleich wurde der junge Waldelf von Tartaloz und seinem Begleiter bestürmt: „Hungoloz, endlich bist du wieder gesund! Wir sind so froh. Wir brauchen ganz dringend deine Hilfe im Waldreich!“
„Jetzt wartet doch erst einmal und lasst ihn wieder zu Kräften kommen!“ sprach Lumniuz ärgerlich.
„Bei allem Respekt, aber wir haben schon zu lange gewartet,“ protestierte Tartaloz. „Wir müssen unbedingt etwas gegen diesen Rebellen tun und… wir brauchen einen Anführer!“
„Von was für einem Rebellen redet ihr und ihr habt doch Markuloz und meinen Vater, als Führer unseres Stammes,“ wollte Hungoloz wissen und man spürte, dass er immer noch sehr müde war. Lumniuz zog seine Brauen verärgert zusammen und strafte die beiden Waldelfen, welche so mit der Tür ins Haus gefallen waren, mit einem finsteren Blick. Doch er konnte jetzt sowieso nichts mehr machen. Sie mussten Hungoloz endlich sagen, was alles während seiner Krankheit geschehen war. „Es tut mir leid,“ sprach der Erdgnom deshalb. „Wir wollten noch etwas warten, bevor wir dir alles sagen. Es… ist einiges passiert, seit du dieser Seuche zum Opfer gefallen bist.“
„Was genau soll das heissen?“ Hungoloz’s Stimme klang ungeduldig.
„Nun… wie Tartaloz bereits sagte, es gibt da einen Rebellen namens Darkuloz, welcher die Waldelfen gegeneinander aufbringt und irgendwelche Machtansprüche geltend macht.“
„Aber das würden Markuloz und mein Vater niemals zulassen!“
„Das ist es ja eben…“ sprach der Erdgnom leise „Markuloz ist… leider von uns gegangen und…“
„Was heisst das? Willst du etwa sagen, das Grossvater tot ist?!“
Pia legte Hungoloz mitfühlend die Hand auf den Arm. „Es tut mir sehr leid…er hatte leider nicht so viel Glück wie du. Er ist an dieser neuen Seuche gestorben.“
Der junge Waldelf keuchte auf, seine Lippen zitterten. Markuloz’s Tod traf ihn zutiefst. Pia fühlte ihrerseits einen Stich im Herzen. Auch sie trauerte um den weisen, alten Elfenfürsten. Doch da war noch mehr: Hungoloz’s Schmerz wurde zu ihrem Schmerz. Doch auf so intensive Art, dass es ihr fast Sorgen bereitete. Warum nur hatte sie solche Gefühle? Sie musste den jungen Waldelf nur ansehen, mit seinen blonden Haaren, diesen wundervollen, goldenen Augen und dem ebenmässigen Gesicht und ihr Herz klopfte sogleich einige Takte schneller. Sie spürte, dass er und sie auf ganz besondere Weise verbunden waren. Jetzt da sie älter und eine gereifte Frau geworden war, konnte sie ihren Empfindungen immer mehr vertrauen, welche sie in jüngeren Jahren, teilweise nur am Rande wahrgenommen hatte. Auch wenn sie beide so lange getrennt gewesen waren, war da einfach ein ganz besonderes Band zwischen ihnen.
Sanft legte sie ihm die Hand nun auch auf die Schultern.
Auch wenn Hungoloz diese Geste und ihr Mitgefühl sehr schätzte, musste er das, was er da gerade vernommen hatte zuerst verarbeiten.
Mit gepresster Stimme fragte er: „Was... ist mit Vater? Ist er… etwa auch krank geworden?“
„Nein…, das nicht,“ antwortete Tartaloz „aber… Darkuloz hat ihn entführt.“ „Entführt!“
„Ja leider, siehst du jetzt, warum wir dich so dringend brauchen? Du musst unser Volk an seiner und Markuloz’s Statt anführen und Darkuloz ein für alle Mal das Handwerk legen.“
Hungoloz nickte und erhob sich ruckartig. „Ich werde Morgen sogleich in unser Heimatdorf zurückkehren! Ich muss meinem Volke unbedingt beistehen! Begleitet mich sonst noch jemand?“
Lumniuz erwiderte: „Manuel und ich werden wohl im Schloss bleiben, um die Medizin aus den Pollen der Feuerblumen herzustellen. Ausserdem muss ja jemand alles hier am Laufen halten und die Kranken, die herkommen empfangen und behandeln.“
„Das verstehe ich gut,“ erwiderte Hungoloz. Dann wandte er sich an Pia und Benjamin: „Werdet ihr mit mir kommen? Ich könnte eure Hilfe gut gebrauchen. Denn ihr habt ja bereits Erfahrungen mit solchen Dingen.“
„Wir kommen auf jeden Fall mit,“ erwiderte Ben. „Das hatten wir ja sowieso vor. Lumniuz und Manuel schaffen das hier schon.“ Hungoloz lächelte erleichtert „vielen Dank! Das bedeutet mir sehr viel! Stossen wir gleich darauf an!“ Er hob ein Glas Wein in die Höhe und prostete allen Anwesenden zu.
Nachdem alle nötigen Vorbereitung getroffen waren, machten sich Pia und Benjamin, zusammen mit den drei Waldelfen, auf den Weg in deren Heimat. Diese lag nicht allzu weit vom Kristallschloss entfernt. Es war nur etwa ein Tagesmarsch dorthin.
Hungoloz war wieder vollständig genesen und er hatte schon eine viel bessere Farbe. „Er sieht wieder beinahe so aus wie früher, einfach ein paar Jahre älter und reifer,“ dachte Pia bei sich. Sie musterte den blonden Elfen von oben bis unten. Er trug, wie bei seinem Volke üblich, grüne, praktische Kleidung. An seinem ledernen Gürtel, baumelte ein Kurschwert, dessen hölzerner Griff, mit wunderschönen Schnitzereien verziert war. Auch die lederne Scheide, worin das Schwert steckte, war sehr kunstvoll mit Punzier- Arbeiten und Stickereien geschmückt worden.
Das Waldvolk war sehr talentiert in solchen Handwerken. Neben dem Kurzschwert, trug Hungoloz, über den Schultern, einen Bogen und einen Köcher mit 12 Pfeilen darin. Der Bogen besass geschwungene Enden mit Nocken aus Horn und die Pfeile waren mit Falkenfedern befiedert.
„Er ist so gutaussehend,“ dachte die Frau schwärmerisch, doch gleich darauf schalt sie sich selbst: „Du benimmst dich ja wie ein kleines, naives Mädchen. Dabei hat eine Beziehung mit Hungoloz ja sowieso keine Zukunft. Wir stammen beide aus ganz anderen Welten…“
Sie wandte sich ruckartig ab und gesellte sich zu ihrem Bruder.
Dieser musterte sie prüfend: „Was ist denn mit dir los, Schwesterherz?“
„Was meinst du?“
„Nun… seit Hungoloz wieder unter uns weilt, leuchtest du irgendwie so von innen heraus.“
„Findest du? Das stimmt doch gar nicht.“
„Jetzt komm! Ich kenne dich doch. Du bist bis über beide Ohren verliebt.“
„Ach Unsinn!“ Sie senkte ihre Stimme. „Ausserdem hätte eine Beziehung mit einem Waldelfen sowieso keine Zukunft.“
„Wer weiss, wer weiss…“
„Nein ehrlich, ich darf mir da nichts vormachen! Auch wenn Hungoloz mir sehr gefällt und ich mich auch zu ihm hingezogen fühle, werde ich mich bestimmt nicht auf so eine komplizierte Beziehung einlassen.“
„Ich glaube kaum, dass sich diese Gefühle so einfach verdrängen lassen. Du entscheidest doch fast alles immer mit deinem Herzen, warum lässt du hier zu, dass der Verstand die Regie übernimmt?“
„Das würdest du doch genauso machen, wenn du dich in ein Mädchen im Reich der Märchen verlieben würdest.“
„Was Benjamin ist verliebt?“ fragte Hungoloz auf einmal und gesellte sich zu ihnen.
„Nein, ich bin ganz bestimmt nicht verliebt!“ lachte der Angesprochene.
„Dabei ist es doch so schön verliebt zu sein,“ meinte der Waldelf lächelnd und blickte Pia vielsagend an.
Diese wurde rot bis über die Haarwurzeln und suchte ihr Heil in einem Themenwechsel: „Eine wirklich schöne Gegend hier! Wir kommen gleich zu einem mächtigen Lindenbaum. Der Geist dieses Baumes hat damals vor 20 Jahren zu uns gesprochen und uns damit bewusst gemacht, dass alle Bäume beseelt sind.“
Zum Glück liess sich der Waldelf auf den Themenwechsel ein und fragte erstaunt: „War euch das vorher denn nicht bewusst?“
„Nein, wir waren deshalb sehr erstaunt, als die Lindenfrau sich uns offenbarte. Vielleicht können wir sie ja kurz besuchen? Dort vorne steht der besagte Baum.“
„Tatsächlich, da ist unsere Linde!“ rief Benjamin erfreut und steuerte auf den mächtigen Baum zu. Vor ihm blieb er stehen und rief: „Hallo liebe Lindenfrau! Ich hoffe du erinnerst dich noch an uns! Wir waren schon mal vor vielen Jahren hier und du hast damals zu uns gesprochen.“
Es dauerte einen Moment, bis die Blätter des Baumes leise zu rascheln begannen und die Oberfläche seines Stammes plötzlich in Bewegung geriet. Kurz darauf schälte sich das Gesicht einer alten Frau aus der Rinde heraus. Als ihre hellgrüne Augen die Geschwister erblickten, lächelte sie freundlich und sprach: „Seht her, seht her! Die Grossen Führer sind tatsächlich zurückgekehrt!“