Manuels Reise
Die fünf Tage, in denen Manuel seine Angelegenheiten regeln sollte, vergingen wie im Flug. Schliesslich brach der letzte Tag an und der
20-jährige wurde immer nervöser. Was nur hatten die Greife damit gemeint, dass ihm eine ganz besondere Ausbildung zuteilwerden würde und… was war genau damit gemeint, dass er der Fürst der neuen Welt werden sollte? Fragen über Fragen und noch kaum Antworten. So beschloss er zur Sicherheit, einfach mal einige wichtige Dinge, wie Körperpflege- Artikel, Ersatzkleider usw. in einen grösseren Beutel zu packen, um für eine längere Abwesenheit gerüstet zu sein.
Beim letzten gemeinsamen Mahl, in Gesellschaft von Hungoloz, Tartaloz, den drei Sylphen und ein paar weiteren Gästen, war er kaum bei der Sache, bewegte sich fahrig und alles rutschte ihm aus den Händen.
„Du scheinst ja ziemlich aufgeregt zu sein,“ meinte Aliya, die Jüngste der Sylphen.
„Das kann man wohl sagen,“ erwiderte Manuel. „Ich weiss überhaupt nicht, was mich nach dem Ablauf dieser fünf Tage tatsächlich erwarten wird.“ „Mach dir deswegen nicht zu viele Sorgen,“ erwiderte die Tochter der Lüfte zuversichtlich. „Die Greife sind überaus weise, hochentwickelte Wesen. Sie wissen bestimmt, was sie tun.“
„Sie mögen es vielleicht wissen, ich allerdings nicht. Ich weiss wirklich nicht, wie ich den Ansprüchen, die da an mich gestellt werden, überhaupt gerecht werden soll. Ausserdem habe ich überhaupt keine Lust, von hier wegzugehen.“
„Manchmal gibt es eben gewisse vorbestimmte Pfade, die Teil unserer Entwicklung sind und uns zu Orten führen, an denen wir unsere wahre Berufung finden.“
Manuel, der die junge Sylphe mittlerweile ins Herz geschlossen hatte meinte lachend. „Echt weise Worte für ein gerade mal 15- jähriges Mädchen.“ „Vielleicht bin ich ja auch älter als ich aussehe,“ sprach Aliya verschmitzt. „Bei uns Sylphen ist das etwas anders als bei euch Menschen.“
„Du bist also älter, als du aussiehst?“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht!“ Das Mädchen lachte, sagte aber nichts weiter dazu.
Nach dem Mahl mit seinen Freunden, zog sich der 20- jährige schliesslich wieder in die Zauberkammer zurück, um sich noch etwas mit Lesen abzulenken. Langsam wurde es dunkler und dunkler und durch die Fenster der Kammer, sah Manuel die Abendsonne in glühenden Farben untergehen. Er zündete seine Leselampe an und vertiefte sich weiter in ein Werk über alte Alchemie. Mit der Zeit wurde er jedoch immer müder und müder. Schliesslich fielen ihm die Augen zu und sein Kopf sank hinab auf den Tisch.
Ein heller Schein weckte ihn kurz darauf wieder! Das Licht drang erneut aus einer geheimnisvollen Pforte, die auf einmal aus dem Nichts erschienen war und aus dieser Pforte, trat nun ein riesiges, eindrucksvolles Wesen, das, ähnlich wie die Abendsonne, in allen Rot- und Orangeschattierungen leuchtete. Es war einer der Greife, und zwar der Feuer- Greif!
„Komm mit mir!“ sprach er. „Es wird Zeit!“
Manuel griff schnell nach dem Beutel, den er gerade gepackt hatte und ging dann mit klopfendem Herzen hinter dem Greifen her, der ihn nun durch das Portal zurückführte.
Anfangs umgab sie nur dieses gleissend helle Licht, doch dann erschien plötzlich ein Pfad unter ihren Füssen, der aus purem Sternenlicht zu bestehen schien.
„Wohin gehen wir?“ wagte Manuel schliesslich zu fragen.
Das Mischwesen erwiderte: „Das wirst du gleich sehen.“
Nach einiger Zeit verblasste auch der Pfad immer mehr und sie waren nun umgeben von einem nächtlichen Himmel, der mit tausenden von Sternen übersäht war. Je weiter sie gingen, umso mehr wurde dieser Himmel von strahlenden Polarlichtern, die wie leuchtende Wellen darüber hinwegflossen, erhellt. Und schliesslich, tauchte unter ihnen eine endlose, weiss schimmernde Winterlandschaft auf! Von einem hohen Felsplateau aus sahen sie weit, weit umher.
Ein Fluss, mit kristallinen Ufern, durchfloss das, unter Schnee und glitzerndem Eis liegende Land. Dieses wirkte unter den vorwiegend grünleuchtenden Polarlichtern wunderbar verzaubert.
Manuel war tief beeindruckt und bewegt von diesem Anblick. So etwas Schönes hatte er noch nie gesehen, zumindest nicht in seinem Leben als Manuel. Es war jedoch eisig kalt und er schlang fröstelnd die Arme um sich. Der Feuer Greif rückte ganz nahe an ihn heran und legte eine seiner mächtigen Schwingen um den 20- jährigen. Von dem gewaltigen Wesen ging nun eine wundervolle Wärme aus, die den Jungen wie ein weicher Mantel umhüllte.
„Wo… sind wir?“ fragte dieser nun.
„Wir befinden uns wieder auf der Erde und zwar in Sibirien. Der Fluss, den du das siehst, heisst Jenissei. Er durchfliesst einen grossen Teil Russlands und mündet dann ins arktische Meer .“
„Aber… warum sind wir ausgerechnet hierher gekommen?“
„In dieser unwirtlichen Umgebung, wird deine Ausbildung beginnen.“
„Wie bitte!“ rief der 20- jährige entsetzt. „Aber… das geht doch nicht! Diese Gegend ist viel zu kalt. Ich werde hier jämmerlich zu Grunde gehen.“
„Nur keine Sorge! Ich werde dich an einen Ort bringen, wo du alles findest, das dir hilft, in dieser Landschaft zu überleben. Allerdings wird es trotzdem kein Spaziergang werden.“
„Aber… warum hier? Was soll ich in dieser menschenfeindlichen Umgebung lernen, das mir bei meiner Aufgabe helfen soll?“
„Das wird sich schon bald zeigen.“
„In was werde ich denn überhaupt ausgebildet?“
„Vorwiegend in verschiedenen Bereichen der Kampfkunst, aber auch in den Geheimnissen der Magie.“
„Aber mit solchen Dingen habe ich überhaupt keine Erfahrungen. Ich habe nie gelernt richtig zu kämpfen und auch wenn ich in meinem Leben als Ululala einige magisch Kräfte beherrscht haben mag, so sind sie beim Übergang in dieses Leben hier, beinahe ganz verloren gegangen.“
„Das musste auch so sein,“ sprach der Greif gleichmütig. „Du musstest zuerst lernen, als normaler Mensch zu leben, ohne besondere magische oder kämpferische Fähigkeiten. Nun jedoch wird es Zeit, dich wieder an dein altes Wissen zu erinnern und das in dir schlummernde Potenzial erneut zu erwecken.“
„Aber warum habe ich diese Fähigkeiten überhaupt jemals verloren? Es wäre doch viel einfacher gewesen, wenn ich alles schon gekonnt hätte. Da ich scheinbar seit jeher zum Fürst der neuen Welt ausersehen gewesen bin.“
„Du stellst wirklich viele Fragen, mein Sohn,“ erwiderte das Mischwesen. „Das ist auch gut so. Aber glaube mir, dass alles seine Richtigkeit hat, so wie es ist.“
„Nun ja, wenn du das sagst…,“ meinte Manuel etwas resigniert und liess dann seinen Blick erneut über die Landschaft vor sich wandern. Weit und breit war keine Spur von Zivilisation zu sehen. Da gab es nur Eis und Schnee, mit einigen Felsformationen und ein paar märchenhaft anmutenden, mit Weiss bedeckten Nadelbäumen, dazwischen. Wie nur, sollte er hier auch nur einen Tag überleben?
Der Greif schaute den Jungen verständnisvoll an, als würde er seine Gedanken lesen. Dann sprach er: „Mach dir nicht zu viele Sorgen mein Junge. Meine Geschwister und ich wissen, was in dir steckt. Du musst es jetzt nur noch selbst erkennen. Steig erst mal auf meinen Rücken und ich fliege dich an den Ort, wo du während der Zeit deiner Ausbildung bleiben kannst.“
Mit diesen Worten legte er sich flach auf den Boden und Manuel stieg etwas unsicher, hinauf auf den Rücken des Mischwesens. „Ich werde uns während des Fluges mit einen Schutzzauber einhüllen,“ erklärte der Greif. „So kann dir die Kälte nichts anhaben. Halte dich gut fest!“ Das mächtige Wesen erhob sich nun mit einigen kräftigen Flügelschlägen in die Luft und schlug dann eine Route. in Richtung Norden ein.