Xandrax offenbart sich
Zyklopus besuchte indessen regelmässig die Gottesdienste im Xandrax Tempel. Auch wenn ihm das je länger, je mehr äusserst zuwider war. Noch immer suchte er nach einer Strategie, wie er Näheres über diesen seltsamen Priester und vor allem über dessen unheimlichen Gott Xandrax, In Erfahrung bringen konnte. Die anderen Riesen hatten ihm teilweise berichtet, dass sich Xandrax ihnen sogar schon mal wahrhaftig gezeigt hatte. Dieser musste also auf jeden Fall mehr sein, als nur ein Götze. Mittlerweile war Zyklopus, von allen, als wertvolles Mitglied der Xandrax- Gemeinschaft anerkannt worden und auch der Priester kümmerte sich fürsorglich um ihn und seine anderen Schäfchen.
„Wie nur, soll ich hier bloss je wieder rauskommen?“ fragte sich der gute Riese, während der Xandrax Prediger, erneut eine seiner Hetzreden, gegen die Zwerge, hielt. Es war doch immer und immer wieder dasselbe! Eine richtige Gehirnwäsche! Hoffentlich hatten sich die Zwerge mittlerweile gut versteckt, denn der zwielichtige Priester, plante bereits einen grossangelegten Überfall, auf das Kleine Volk. Er wollte dieses scheinbar wirklich, bis auf den letzten Mann, ausrotten. Das durfte keinesfalls geschehen! Hoffentlich waren wenigstens Pia, Benjamin und die anderen, erfolgreich bei ihrer Suche nach dem Greif gewesen. Dieses Wesen war wohl wirklich als einziges dazu in der Lage, die Zwerge davor zu bewahren von den Riesen vollends vernichtet zu werden.
Noch ganz in düsteres Grübeln versunken, merkte Zyklopus gar nicht, dass der Gottesdienst zu Ende ging und die anderen Riesen bereits wieder aus dem dunklen Tempel strömten.
Die Stimme des Priesters riss ihn aus seinen Gedanken. „Nun, mein guter Zyklopus, willst du dich nicht auch noch etwas zu den anderen gesellen?“
„Äh…“ stotterte der Angesprochene „Ich… denke heute nicht.“
„Aber warum denn nicht?“ fragte der Priester und runzelte seine Stirn. „Beschäftigt dich vielleicht etwas, mein Sohn?“
Zyklopus zuckte zusammen. Was nur, sollte er jetzt sagen? Seine Gehirnzellen arbeiteten auf Hochtouren, um nach einer guten Antwort zu suchen. Schliesslich kam ihm eine Idee. Sie war riskant, aber vielleicht konnte er so endlich mehr über diesen Riesen- Gott herausfinden. „Ach, manchmal habe ich gewisse Zweifel, dass es Xandrax auch wirklich gibt,“ sprach er deshalb mit einem tiefen Seufzer.
„Du hast Zweifel?!“ rief der Priester entsetzt und wütend zugleich. „J…ja, manchmal schon. Vergebt mir Meister! Aber… ich habe unseren mächtigen Schöpfer noch nie gesehen. Vermutlich bin ich aus irgendeinem Grunde nicht würdig, seiner ansichtig zu werden. Dabei habe ich von einigen meiner Riesen- Brüder gehört, dass er sich ihnen auch schon gezeigt hat.“
„Das ist in der Tat so,“ erwiderte der Priester. „Allerdings ist das nur gewissen Auserwählten vorbehalten.“
„Das dachte ich mir und ich fühle mich schrecklich deswegen. Ich gebe mir wirklich die grösste Mühe, verpasse keinen deiner wertvollen Gottesdienste und doch… möchte unser grosser Gott, den ich so aus tiefstem Herzen verehre, sich meiner nicht erbarmen.“
Der Priester runzelte erneut leicht die Stirn und musterte Zyklopus mit einem undefinierbaren Ausdruck in seinem Gesicht.
„Also gut!“ sprach er schliesslich. „Ich werde Kontakt zu Xandrax aufnehmen und ihn fragen, ob er sich dir womöglich schon zeigen will. Zweifellos bist du einer seiner eifrigsten Diener. Obwohl du erst seit Kurzem zu uns gestossen bist.“
Das Herz von Zyklopus machte einen Sprung. Doch sogleich darauf, rutschte es ihm in die Hose. „Ach du meine Güte! Wenn Xandrax sich mir tatsächlich offenbart, was soll ich dann tun?“ dachte er bei sich. Doch jetzt gab es wohl kein Zurück mehr. Beinahe wünschte sich der gute Riese, er wäre nicht so dreist gewesen. Denn es konnte ganz gut sein, dass dieser Gott ihn und sein Vorhaben, sogleich durchschaute. Bestimmt war dieser noch um einiges klüger und verschlagener als sein Priester. Und dennoch, war dies eine Chance, die der gute Riese, vielleicht nicht so schnell wieder erhalten würde.
Der Priester hob nun seine Arme und seine schwarzen, weiten Kuttenärmel, raschelten dabei wie zwei Fledermausflügel. Er verdrehte nun seine Augen, so dass man nur noch das Weiss darin sah. Das Ganze wirkte sehr unheimlich und als der Prediger dann auch noch mit einer tiefen, kehligen Stimme, irgendwelche fremd klingende Worte sprach, durchlief ein Schaudern Zyklopus ganzen Körper. Etwas ängstlich und nervös, harrte er der Dinge, die da kommen würden.
Schliesslich schwieg der Priester und seine Augen wurden wieder normal. Diese richteten sich nun auf Zyklopus. „Du hast Glück!“ sprach er feierlich. „Unser mächtiger Herr ist tatsächlich bereit, dich heute zu empfangen. Komm mit mir!“ wies er ihn an. Wieder klopfte das Herz des Riesen heftig, als er nun dem Priester zu der mächtigen Xandrax Statue, hinter dem Altar, folgte. Der Priester drückte gegen eine Stelle im Sockel des furchterregenden Standbildes und dieses glitt urplötzlich, lautlos zur Seite! Eine finstere Öffnung tauchte nun darunter auf. Eine steile Treppe führte in deren unsichtbaren Schlund hinab. Der Priester griff nach einer Fackel, die neben dem Altar in einer Halterung steckte und sprach feierlich. „Du wirst jetzt schon bald das grosse Heiligtum betreten. Das ist eine grosse Ehre. Aber auch wenn Xandrax sich von deiner Tauglichkeit als Jünger überzeugt hat, wirst du es danach nie wieder betreten. Das hier ist das einzige und das letzte Mal! Das muss reichen.
Sollte… der grosse Schöpfer nicht von deiner Tauglichkeit überzeugt sein, dann… nimmt deine Lebensreise hier, sowieso ein jähes Ende…“ Die Stimme des Priesters nahm einen bedrohlichen Klang an, als er das sagte. Zyklopus nickte ziemlich erschrocken und erwiderte: „Ja, grosser Meister! Das ist mir… bewusst.“
„Dann ist es ja gut,“ meinte der Priester wieder etwas optimistischer.
Zyklopus war es jedoch gar nicht wohl in seiner Haut. Wenn ihn dieser… lebende Götze nur nicht sogleich entlarvte! Auf einmal bereute er es, dass er um eine Audienz bei Xandrax gebeten hatte. Nun… jetzt war es schon zu spät. Er schluckte einige Male leer und folgte dem Priester dann vorsichtig hinunter in die unheimliche Gruft. Tiefste Finsternis hüllte sie gleich darauf ein, eine Finsternis, die auch von der Fackel, nur ganz spärlich erleuchtet werden konnte. Es erschien fast, als würde sie annähernd jeden Lichtstrahl absorbieren und Zyklopus beschlich das ungute Gefühl, als würde er in irgendeine Höllensphäre hinabsteigen. Die Atmosphäre war sehr bedrückend und von einer bösen Schwingung, wie von zähen, klebrigen Spinnweben, durchzogen. Der gute Riese wollte instinktiv zum grossen Liebeslicht beten, dass dieses ihm beistehen möge. Doch er wagte es nicht, weil er fürchtete, dass Xandrax oder vielleicht sogar sein dunkler Priester, dadurch seine erhöhte Schwingung wahrnehmen würden. Das durfte er nicht riskieren. Mit aller Macht versuchte er deshalb sich nichts von seiner Abscheu und Furcht anmerken zu lassen. Wenigstens war es hier so dunkel, dass sein Anführer, dessen Silhouette geisterhaft vor ihm herglitt, sein Gesicht nicht wirklich deutlich sehen konnte. Vor ihnen huschte der winzige Kegel der Fackel, wie ein verlorenes Irrlicht, über den dunklen, steinernen Boden. Der einzige Orientierungspunkt im Meer dieser grässlichen Finsternis…
Die beiden gingen durch endlos scheinende Gänge und Gewölbe. Dieses unterirdische Reich war viel grösser, als es sich Zyklopus jemals hätte ausmalen können. Noch immer erhellte kein einziger Lichtstahl, ausser der Fackel, die der Priester trug, die Finsternis. Und sogar diese flackerte oftmals unruhig und erlosch beinahe, als würde sie selbst sich ängstlich unter der lastenden Stille und Verderbtheit dieses Ortes ducken.
Endlich jedoch, erblickte der Riese in der Ferne einen weiteren, matten Schein.
„Wir sind gleich da,“ meinte der Priester und tiefe Ehrfurcht schwang nun in seiner Stimme mit. „Bald werden wir unseres allmächtigen Herrn ansichtig werden!“
Zyklopus nickte und ihm war auf einmal, als würde seine Kehle immer mehr durch einen unsichtbaren Strick zusammengezogen werden. Schweiss drang ihm aus allen Poren und er stiess ein raues Husten aus.
Kurz darauf traten sie in einen mächtigen Saal mit gewölbter Decke. Dieser wurde von hunderten, nachtschwarzen Kerzen erleuchtet. Doch dieses Licht hatte nichts Wärmendes, nichts Behagliches an sich. Es war seltsam schwefelgelb und brannte in seinen Augen. Inmitten dieses Saals stand auf einer etwas erhöhten Plattform, ein mächtiger ebenholzfarbener Thron, welcher mit unzähligen, unheimlichen Schnitzereien verziert war. Und auf diesem Thron erblickte Zyklopus nun eine riesenhafte, finstere Gestalt…!