„Also doch!“ rief Benjamin „habe ich es mir doch gedacht! Diese Mistkerle haben mittlerweile auch überall ihre Finger im Spiel!“
Der Greif nickte. „Das ist leider wahr.“
„Wirst du denn mit einem der Ritter fertig?“
„Wenn er ohne seine beiden Kumpane gegen mich antritt, dann bestimmt.“ „Und denkst du denn, dass wir dadurch die Riesen wieder zur Vernunft bringen können?“
„Das will ich hoffen. Ansonsten bekommen sie es ebenfalls mit mir zu tun.“ Der goldschimmernde Greif hob seinen Kopf und stiess ein lautes, kriegerisches Kreischen aus, welches den Freunden durch Mark und Bein ging.
Dann rief das Mischwesen: „Dann also los! Steigt auf meinen Rücken, wir bringen zuerst Sebius und Lumnije nach Hause und dann fliegen wir zum Tempel!“
Die Freunde zögerten jedoch noch. Der Gedanke auf den Rücken dieses gewaltigen Wesens zu steigen, war doch ein wenig furchteinflössend. Das Mischwesen musterte sie etwas amüsiert. „Ich seid ja ziemliche Angsthasen. Aber fürchtet euch nicht! Euch wird nichts passieren. Meine Magie wird euch zusätzlich noch vor einem Absturz bewahren.“ Die Geschwister mussten auf einmal wieder an jenen Moment zurückdenken, als die Fee Isobia sich in eine riesige Taube verwandelt und sie beide dann nach Irland geflogen hatte. Auch damals waren sie durch deren Magie geschützt gewesen.
Als sie ihre Augen wieder öffneten, befand sich an der Stelle wo Isobia gestanden hatte, eine riesige, schneeweiße Taube. Sie war so groß, dass die Geschwister beide zwischen ihren Schwingen Platz fanden. „Steigt auf!“ befahl sie. „Es geht los, haltet euch gut fest! Es wird ein weiter Flug.“
Als die Geschwister bereit waren, erhob sich die Taube in den nächtlichen Himmel. Es war ein seltsames und zugleich berauschendes Gefühl. Immer höher stiegen sie... Bald war der Boden nicht mehr zu sehen. Es war, als umfingen sie die nächtlichen Schatten wie ein samtblaues Tuch.
Unter ihnen glitten nun die Lichter einer Stadt dahin. Sie schienen wie winzigkleine Glühwürmchen. Alles kam ihnen vor wie ein seltsamer Traum, aus dem sie glaubten, irgendwann wieder zu erwachen. Doch es war kein Traum. Es war Realität, das spürten sie an dem Wind, der ihnen um die Ohren pfiff und dem Rauschen der mächtigen Taubenschwingen, das sie stets begleitete. Sie flogen über endlos scheinende Felder, Wiesen und Wälder. Ab und zu erschien wieder eine Stadt oder ein Dorf, das durch seine Lichter zu erkennen war.
Schliesslich aber, erschien eine einzige grosse Fläche unter ihnen, die keinerlei Schattierungen mehr aufwies. Als der Halbmond schließlich hinter den Wolken, die bisher den Himmel bedeckt hatten, hervorkam, erkannten sie, was diese Fläche war.
„Es ist das Meer!“ schrie Pia. „Wir sind über dem Meer!“
„So ist es“, antwortete die Taube. „Wir fliegen zusammen nach Irland...“
Pia und Benjamin bekamen nicht mehr die ganze Reise mit. Erneut übermannte sie eine wohlige Müdigkeit und wieder fielen sie in einen Schlaf, einen Schlaf voll mit wundervollen Träumen und stets beschützt von der Magie der großen Wanderfee Isobia!
Der Flug auf der mächtigen Taube war damals wirklich etwas ganz Besonderes gewesen. Bestimmt war es auch bei dem Flug auf einem Greifen nicht viel anders. Sie musterten den mächtigen Körper der gewaltigen Kreatur vor sich. Diese war allerdings noch um einiges grösser als die Taube, in die Isobia sich damals verwandelt hatte. Der Greif hatte sich nun wieder entspannt auf seinen Bauch niedergelassen und seine muskulöse Brust hob und senkte sich bei jedem Atemzug. Sein Gefieder und Fell waren wahrhaft wundervoll. Sie funkelten in der Sonne wie tausend Goldstücke.
Schliesslich nahm Benjamin sich ein Herz und trat auf das Mischwesen zu. Als er nun aber so dicht vor selbigem stand, zögerte er erneut.
„Nur keine Angst, ich werde euch schon nicht fressen,“ sprach das eindrucksvolle Geschöpf ironisch. Dann senkte es sein mächtiges Adlerhaupt und bildete damit eine Art Brücke, über welche die Freunde hinauf auf seinen breiten Rücken gelangen sollten.
Benjamin kletterte nun vorsichtig über den grossen Schnabel, die Stirn und den Nacken des Greifs, nach oben. Pia und Malek folgten ihm sogleich.
Sebius zögerten noch immer und blickte etwas unentschlossen auf seine kleine Tochter Lumnije.
„Du kannst deinen Mantel nehmen, sie darin einwickeln und dir dann um den Bauch binden,“ schlug das Mischwesen vor. „Es wird schon ein wenig windig werden und du brauchst deine Hände, um dich an meinem Gefieder festzuhalten.“
Der Zwerg nickte und tat wie ihm geheissen. Als Lumnije schliesslich sicher an seinen Bauch gebettet lag, kletterte er ebenfalls auf den Rücken des Greifs. Er stellte sich dabei jedoch etwas ungeschickter an, als die anderen drei und seine Füsse rutschten mehrmals ab.
„Autsch!“ rief der Greif als diese sich schmerzhaft in seine Augen gruben. „Pass bitte ein wenig auf! Ich kann es mir nicht leisten mein Sehvermögen gerade jetzt zu verlieren!“
„Tschuldigung!“ murmelte Sebius zerknirscht.
Schliesslich schienen endlich alle sicher auf dem Rücken des Mischwesens Platz genommen zu haben und dieses fragte: „Nun, kann es losgehen?“
„Ja,“ war die einstimmige Antwort.
„Dann haltet euch jetzt gut an meinem Gefieder fest!“
Mit diesen Worten breitete der Greif seine gewaltigen Schwingen aus und flog mit kräftigen Flügelschlägen los. Erneut umzuckte ihn dabei das goldene, energetische Gewitter. Doch die Freunde blieben davon unberührt. Es kam ihnen so vor, als ob sie unter einer sicheren, warmen Kuppel aus goldenem Licht geborgen wären. Dennoch war es ein ziemlich wilder Ritt, nicht gar so gemächlich, wie damals bei der Taube, in die Isobia sich verwandelt hatte. Der Wind heulte um sie herum, dazu kamen noch die Geräusche der sie umzuckenden Blitze und Donner und das mächtige Rauschen der goldenen Schwingen.
Unter ihnen flog die Landschaft nur so dahin und Benjamin stiess einen lauten Jubelschrei aus. Es war ein unglaubliches Erlebnis auf einem Greifen zu reiten! Man fühlte sich so stark und unverwundbar! Den anderen, ausser Sebius, schien es wohl ähnlich zu gehen. Das alles kam ihnen vor, wie ein wunderschöner Traum und sie fürchteten sich auf einmal gar nicht mehr. Die wundervolle Präsenz diese erhabenen Wesens, durchdrang sie, umspielte sie wie die Wogen eines warmen, goldenen Meeres. Sie glitten durch dieses Meer, schnell wie Pfeile, die der Sonne entgegenflogen. Mit der Zeit verlor sogar der Zwerg, welcher sich sonst viel wohler auf festem Boden fühlte, seine Furcht und der sanfte Glanz der Greifen- Macht, spiegelte sich wieder in seinen weit offenen Augen.
Als das gewaltige Mischwesen dann zur Landung ansetzte, kam es ihnen vor als würden sie aus einer Art Trance erwachen.
„Da unten müsste sich dein Heimatdorf befinden,“ meinte der Greif mit seiner vollen Stimme, die alle Nebengeräusche mühelos zu übertönen vermochte, an Sebius gewandt. „Wir werden dich dort absetzen und dann fliegen wir weiter zum Xandrax Tempel.“
Der Zwerg nickte und blinzelte, als wäre er gerade aus einem Traum erwacht und nun wieder in der brutalen Realität angekommen.
Als das Mischwesen landete, stieg er deshalb so schnell als möglich von seinem Rücken, Lumnije dicht an sich gedrückt. Er schien sehr froh darüber zu sein, wieder festen Boden unter den Füssen zu haben.
„Danke für die Mitflug- Gelegenheit lieber Greif,“ sprach er ehrerbietig. „So schnell habe ich den Weg vom Gebirge hierher noch nie zurückgelegt. Ich werde jetzt wohl mal meinen Brüdern dort drüben, das erste weibliche Mitglied unseres Stammes vorstellen. Viel Glück, im Kampf gegen Xandrax und seine Anhänger!“ Er wandte sich nun auch noch an die Geschwister und Malek. „Haltet mich unbedingt auf dem Laufenden, was weiter geschehen ist und kehrt bald zu uns zurück!“
„Das werden wir!“ erwiderte Pia. „Bis bald!“
„Ja bis bald und viel, viel Glück!“
Der Greif nickte leicht und dann erhob er sich erneut in die Lüfte, um sich auf den Weg zum dunklen Tempel im Vulkankrater zu machen…!