„Malek ist also in seine Heimatwelt zurückgekehrt?“ fragte Hungoloz erschrocken, als Benjamin von den Ereignissen der letzten Nacht berichtete. „Aber… dann wird er euch nicht begleiten?“
„Doch, doch,“ schwindelte Benjamin. „Er wird schon bald wieder zu uns stossen. Nur keine Sorge!“
Der Waldelf wirkte etwas skeptisch, doch er sagte zum Glück nichts weiter dazu. Ben schämte sich, dass er seinen Freund anlügen musste. Doch er wollte nicht riskieren, dass dieser aus Sorge um sie, doch noch mit ihnen kam und sich dabei einer so grossen Gefahr aussetzte.
„Wann… stösst er denn wieder zu euch?“
„Morgen Nachmittag wir… treffen uns draussen beim… naheliegenden Wald- Weiher.“
„Er kommt also nicht mehr hierher zurück?“
„Nein, ich fürchte nicht. Da ist so ein Drachen, den er bekämpfen muss.“ „Aber… können das denn nicht irgendwelche Krieger an seiner Statt erledigen?“
„Nein, denn leider… ist das kein… normaler Drachen. Es soll ein untoter Drachen sein.“
„Ein Untoten Drachen?!“ rief nun auch Pia erschrocken.
„Ja. Scheinbar muss diese Art von Drachen… enthauptet werden und nun ja… da wird wohl Maleks Magie gebraucht. Denn wer… sollte schon in der Lage sein, einen Drachen auf anderem Wege zu… enthaupten.
Man… würde doch nie nahe genug an ihn herankommen und ihr wisst ja, dass die Schuppen von Drachen sehr hart sind.“
„Das… klingt wirklich nicht gut,“ sprach Hungoloz. „Ich hoffe sehr, dass Malek es rechtzeitig zurückschafft, um euch doch noch zu Obislav zu begleiten.“
„Na klar! Das ist doch ein Klacks für Maleks magische Kräfte.“
„Also gut. Dann werdet ihr also Morgen wieder abreisen?“
„So ist es.“
„Dann kommt jetzt erst einmal mit und nehmt ein stärkendes Frühstück zu euch.“ Die Geschwister nickten und folgten dem Elfen in den Salon.
„Später als Ben und Pia kurz allein waren, meinte die Frau an ihren Bruder gewandt: „Die Geschichte, die du Hungoloz da aufgetischt hast, scheint mir etwas fadenscheinig zu sein. Wird es Malek wirklich zurückschaffen? Und wozu sollten wir uns beim Wald- Weiher treffen?“
Der blonde Mann blickte sich vorsichtig um, dann erwiderte er mit gesenkter Stimme: „Du hat recht. Das Problem, mit dem es Malek zu tun hat, ist leider schlimmer, als ich es Hungoloz hab glauben lassen. Es sind mehrere dieser schrecklichen Drachen, die in Maleks Reich für Unruhen sorgen…“
Er berichtete nun von allem, was er mitbekommen hatte und Pias Gesicht wurde immer blasser. „Dann… sind wir jetzt also auf uns allein gestellt?“
„Ich fürchte ja.“
„Es war gut, dass du Hungoloz davon nichts gesagt hast. Er hätte uns auf jeden Fall begleitet, wenn er das gewusst hätte.“
„Ja, das dachte ich mir auch. Auch wenn ich ihn nur sehr ungern angelogen habe.“
„Manchmal muss man als die Grossen Führer leider gewisse Entscheidungen treffen, um andere zu schützen. Hungoloz könnte ohne ein Gewand der Klarheit, dem bösen Odem von Obislav niemals trotzen. Wenn ich daran denke, was der Greif über diesen bösen Geist gesagt hat, dann sehe ich es als unsere Pflicht unsere Lieben vor so einem gefährlichen Einfluss zu schützen.“
„Ich bin froh, dass du das auch so siehst.“
„Wie gehen wir nun also weiter vor?“
„Wir werden uns Morgen Mittag, wie angekündigt, auf den Weg machen. Ganz in der Nähe, in einem Waldstück, gibt es eine verborgene Ruine. Dort könnten wir den Schlüssel unbemerkt bei einer der Mauern anwenden. Und dann hoffe ich mal, es klappt und… du weisst den komplizierten Zauberspruch noch, den wir dazu sprechen müssen.“
„Klar, ich habe ihn noch genau im Kopf: Schwarzer Schlüssel so öffne die Türe, auf dunklen Pfaden mich zu ihm führe. Zur Stätte voll Bosheit und niedrigem Trachten, auf das ich dort Obislav möge entmachten!“
„Sehr gut,“ meinte Ben. „Ich bin froh, dass ich dich dabei habe. Wir sind wirklich ein gutes Team.“
„Das stimmt.“ Pia blickte seufzend aus dem Fenster. „Jetzt sind wir schon so lange auf diesem gemeinsamen Weg und so vieles verändert sich. Überall tauchen neue Gefahren auf und… wir wissen noch nicht, wohin uns das alles führen wird. Ich mache mir manchmal grosse Sorgen, um unsere Liebsten, frage mich… ob wir sie wirklich von allem beschützen können.“
Benjamin legte seiner Schwester tröstend die Hand auf den Arm. „Lass dein Gemüt nicht von solch dunklen Gedanken beschweren! Bestimmt wird alles gut werden.“
„Machst du dir denn keine Sorgen um Sara und die anderen, die dir etwas bedeuten?“
„Doch, natürlich mache ich mir Sorgen. Aber es ist wichtig, dass wir auf das Göttliche Liebeslicht vertrauen. Viele wurden ja bereits gerettet und in die Himmelsstädte gebracht. Ich bin zuversichtlich, dass noch mehr gerettet werden.“
„Aber…, wenn Hungoloz und Sara nicht zu den Geretteten gehören?“
„Das glaubst du wohl selbst nicht! Ihre Zeit wird kommen, da bin ich mir sicher.“ Und Pia hoffte von ganzen Herzen, dass es so sein würde.
Das Reich des bösen Obislav
Am darauffolgenden Tag verabschiedeten sich alle herzlich voneinander. Wie schon beim letzten Mal, konnten sich Pia und Hungoloz beinahe nicht voneinander lösen.
Doch schliesslich machten sich die Geschwister auf den Weg, zu den verborgenen Ruinen. Ihre Herzen waren schwer und irgendwie fürchteten sie sich vor dem, was ihnen noch bevorstand.
Bei den alten Ruinen im Wald, legten sie eine kurze Pause ein und verbanden sich nochmals ganz bewusst mit dem Grossen Geist, baten ihn um Hilfe und Beistand. Während sie so in der Wiese lagen und über sich die alten Gemäuer, eingebettet in saftig-grüne Bäume, aufragen sahen, kehrte eine neue Ruhe und ein neuer Frieden in ihre Herzen und ihre Seelen ein. Bestimmt würde alles gut werden.
Nach ihrer Andacht betraten sie die Ruinen und gingen zu einer der höheren, noch immer erstaunlich gut erhaltenen Mauern, die aus grossen Steinquadern gefertigt worden waren.
Benjamin nahm nun den Schlüssel hervor und reichte ihn seiner Schwester. Diese legte ihn nun auf die Mauer und sprach den Zauberspruch. Kurz darauf wirkte es, als würde die Mauer Wellen schlagen und vor ihnen tauchte nun tatsächlich eine schwarze Tür, übersäht mit uralten, magischen Symbolen auf!
„Da ist der Eingang!“ rief Ben und die Herzen der Geschwister klopften bis zum Hals. Pia umfasste mit ihren zitternden Fingern noch einmal den Schlüssel und steckte ihn dann in das Schloss! Die Tür schwang mit einem ächzenden Geräusch auf und vor ihnen öffnete sich eine unheimliche, bedrohliche Welt!
Es war eine Welt aus Finsternis und Fäulnis. Nirgendwo gab es Anzeichen von Leben. Einige abgestorbene Baumskelette reckten ihre Äste gen Himmel und schwarze Felsbrocken, lagen überall herum. Dichte Nebelfetzen raubten einem die Sicht teilweise vollkommen. Sie mussten sich in einem Art Gebirge befinden, denn ab und zu ragten, nicht weit von ihnen entfernt, dunkle Bergspitzen aus dem Nebel empor. Die Orientierung hier, fiel sehr schwer. Vorsichtig bewegten sich die Geschwister deshalb vorwärts, während sie ganz deutlich eine düstere, dunkle Präsenz in allem, was sie umgab, wahrnahmen.
„Vielleicht könnten wir ja Solaria hervorholen,“ schlug Pia vor. „Ihr Licht soll ja in der Lage sein, alles Böse zu vertreiben.“
„Ein Versuch wäre es zumindest wert. Ich hoffe einfach, unsere kleine Sonnenfee wird von diese unheilvollen Atmosphäre nicht zu sehr geschwächt.“
„Sie ist immerhin eine Sonnenfee, ihr Licht müsste eigentlich stark genug sein.“
„Ich hoffe es, denn die Bosheit an diesem Ort ist wirklich überaus mächtig, ganz ähnlich wie damals in der Unterwelt.“
„Wir sollten es trotzdem versuchen.“ Pia nahm die Kugel mit der kleinen Sonnenfee aus ihrem Beutel und sprach zu ihr: „Liebe Solaria. Wir möchten dich bitten, uns einmal mehr den Weg zu erleuchten. Wir befinden uns hier allerdings an einem sehr gefährlichen Ort. Also achte gut auf dich und wenn es dir zu viel wird, lass es uns wissen!“
Die kleine Kugel leuchtete kurz als Antwort auf und begann dann immer heller zu strahlen. Sogleich wurden alle Nebel im näheren Umkreis der Turners vertrieben und die Geschwister konnten endlich einen Pfad erkennen, der hinauf auf einen zerklüfteten Gebirgszug führte.
„Das ist der einzige Weg, den ich gerade erkennen kann,“ sprach Benjamin. „Vermutlich führt er uns an unser Ziel.“
Pia nickte und man merkte die Anspannung in ihrer Stimme, als sie sprach: „Das hier ist wirklich ein unheimlicher Ort. Es liegt so viel Hass, so viel Schwere in der Luft, dass man sie beinahe greifen kann. Wie ein dickflüssiger Brei, der das Vorankommen und das Atmen schwer macht.“
„Du hast recht. Das hätte ich nicht besser beschreiben können,“ gab Benjamin zurück.
Auch Solaria hatte offensichtlich zu kämpfen, denn ihr Licht flackerte teilweise unruhig, als ob sie sich ängstlich, unter der sie umgebenden Düsternis, ducken würde.
„Solaria?“ fragte Pia besorgt. „Geht es dir gut?“
Diesmal ging es jedoch eine Weile, bis die kleine Fee als Antwort aufleuchtete. Die Geschwister gingen ihr weiterhin hinterher, behielten sie jedoch stets im Auge.
Die kleine Sonnenfee, hatte tatsächlich ziemlich zu kämpfen. Sie nahm ganz klar die finstere Macht wahr, die sich hier in allen Dingen, in der Luft und in der Erde manifestiert hatte. Diese Macht schien von einem Zentrum, irgendwo in den Bergen, auszuströmen und breitete sich wie Schallwellen überall aus. Die Fee hatte noch nie so etwas Unheimliches, Bedrohliches gespürt und dies beklemmende Atmosphäre legte sich wie dunkle Teer auf ihr Gemüt. Sie merkte, wie sie immer mehr ihre Lebenskraft, ihre Lebensfreude verlor. Je näher sie dem Zentrum, aus dem die finstere Macht floss, kamen, umso schwieriger wurde es für Solaria ihr Licht am Brennen zu halten. Sie wurde immer blasser und blasser und schliesslich spürte sie, wie sie urplötzlich in eine bodenlose Tiefe hinabstürzte…