Am nächsten Tag, gleich nach einem bescheidenen Frühstück, machten sich Sara und Trion wieder zur Abreise bereit. Während sie ihre Pferde bereit machten, verschwand Triandra nochmals im Haus und brachte kurz darauf ein Paket nach draussen. Dieses reichte sie dem Trollenmann. „Ein wenig Reiseproviant,“ meinte sie und ein liebevollen Lächeln erhellte dabei ihr Gesicht.
Trion nahm das Päckchen, dankbar lächelnd, entgegen und verstaute es in einer seiner Satteltaschen.
„Macht es gut und kehrt bald wieder zurück!“ sprach die Priesterin und dann… umarmte sie Trion voll tiefer Zuneigung.
Der männliche Troll wurde sehr verlegen und murmelte: „Wir kehren so schnell als möglich zu dir zurück. Leb wohl meine… Priesterin.“ Dabei deutete er eine leichte Verbeugung an. Dann stiegen er und Sara in den Sattel.
Triandra verabschiedete sich nun auch noch von der jungen Frau, dabei meinte sie, während sie Silberstern an seinem kräftigen Hals tätschelte: „Du hast da wirklich ein wunderschönes Pferd.“
„Ja, sein Name ist Silberstern,“ erwiderte Sara. „Aber eigentlich gehört er ja meiner Tante.“
„Ein wahrhaft besonderes Tier! Achte gut auf es!“
„Das werde ich,“ versprach Sara dann meinte sie: „Auf ein baldiges Wiedersehen und vielen Dank für deine Gastfreundschaft!“
„Das ist sehr gern geschehen!“ Noch einmal drückte die Priesterin warm Saras Hand, dann stiessen die beiden Reiter ihren Tieren die Fersen in die Flanken und schon bald entschwanden der kleine Bauernhof und Triandra ihren Blicken.
Eine Weile ritten sie schweigend nebeneinander her.
Schliesslich ergriff Sara wieder das Wort: „Triandra ist wirklich sehr nett!“
„Ja, das ist sie!“ wieder erschien der schwärmerische Ausdruck in Trions Augen.
„Ihr mögt euch sehr, nicht wahr?“
„J…ja, ich… denke schon, “ erwiderte Trion.
„Ihr wirkt jedenfalls sehr vertraut miteinander.“
„Nun ja…, ich habe Triandra ja auch das Leben gerettet und diesen kleinen, abgelegenen Bauernhof für sie gefunden.“
„Das hat eure Verbindung bestimmt sehr vertieft,“ meinte Sara wie beiläufig. „Also was mich betrifft auf jeden Fall, aber wie es bei ihr genau ist, ich weiss es nicht.“
„Ich glaube schon, dass sie dich sehr mag, vielleicht ist da sogar noch mehr als nur mögen.“
„Manchmal denke ich das auch, doch dann wird mir wieder bewusst, dass sie und ich eigentlich sehr unterschiedlich sind. Ich bin nur ein einfacher, nicht sonderlich gebildeter Mann und Triandra… sie ist so weise, klug und von edlem Geblüt, anders… als ich.“
„Mir geht es, in Bezug auf Benjamin, ganz ähnlich,“ gab Sara zu.
„Tatsächlich?“ der Troll schaute die junge Frau neugierig an.
„Ja. Bei ihm und mir habe ich manchmal auch das Gefühl, dass da eine besondere Verbindung ist. Aber… wir sind ebenfalls sehr unterschiedlich. Du weisst ja, er ist der grosse Führer und ich… ich bin nichts Besonderes.“ „Ich denke, da irrst du dich,“ gab Trion ernst zurück. „Ich glaube schon, dass auch du etwas sehr Besonderes bist. Sonst wärst du doch niemals hierher gekommen und würdest unserer Urmutter Tri- Chan so ähnlich sehen. Du hast bestimmt eine wichtige Aufgabe. Schon deswegen musst du dich keineswegs minderwertiger fühlen.“
„Wenn das wirklich so ist, dann ist es bei dir genau dasselbe! Ich bin sicher, dass auch du auf deine ganz eigene Weise ein Auserwählter bist. Du bist schon so lange der Beschützer und treuester Freund der trollischen Hohepriesterin, ausserdem leistest du auch sonst Unglaubliches. Wenn ich nur sehe, wie du in diesen schwierigen Zeiten des Krieges ein Fels in der Brandung für so manche bist.“
Trion blickte etwas verlegen auf den Sattelknauf vor sich und sprach: „Das ist sehr lieb von dir. Doch das was ich tue, ist nichts Besonderes. Die meisten würden an meiner Stelle genau dasselbe tun.“
„Und gerade darin irrst du dich. Es gibt nicht so viele wie dich und das wird Triandra bestimmt genauso sehen.“
„Das kann sein, doch das ändert nichts daran, dass sie und ich aus ganz unterschiedlichen Welten kommen.“
„Das glaube ich nicht. Ich denke vielmehr, ihr würdet sehr gut zusammenpassen. Dürfen Priester bei euch denn heiraten?“
„Eigentlich schon. Aber es gibt auch jene, die freiwillig auf einen Partner und eine Familie verzichten, um sich allein ihrem Priester- Amt zu widmen.“
„Also mir macht es nicht den Eindruck, dass Triandra das so handhabt. So wie sich dich vorhin angeschaut und dich umarmt hat. Da war schon sehr viel Zuneigung dabei.“
„Meinst du?“ Trions Augen begannen auf einmal zu leuchten.
„Ja. Das meine ich. Vielleicht solltest du mal dein Glück bei ihr versuchen.“ „Also ich weiss nicht… eigentlich sollte sie, als meine Priesterin, mich zuerst erwählen, doch das hat sie bisher nicht wirklich getan.“
„Vielleicht wartet sie ja darauf, dass du ihr deine Gefühle zuerst offenbarst.“ „Ich habe aber ziemliche Angst davor. Denn wenn sie mich zurückweist, dann würde auch unsere Freundschaft darunter leiden und das wäre schrecklich.“
„Ganz ähnliche Gedanken beschäftigen mich, hinsichtlich von Benjamin, ebenfalls. Zwar glaube ich irgendwie schon, dass er mich sehr mag. Aber ob er mich wirklich so mag, wie ich ihn. Ich… weiss es nicht. Es könnte ja auch sein, dass ich nur ein Zeitvertreib für ihn bin, wenn er gerade mal im Juwelenschloss ist.“
„Ich glaube nicht, dass Benjamin so ist,“ widersprach Trion. „Wenn du das Gefühl hast, dass er dich mag, dann ist das bestimmt so.“
„Aber ob seine Gefühle ausreichen, ich weiss nicht...“
„Da haben wir beide wohl ein ganz ähnliches Problem,“ schmunzelte der Troll. „Vielleicht sollten wir einfach lernen unsere Ängste zu überwinden. Man weiss ja nie was Morgen bringt.“
„Damit hast du allerdings recht,“ erwiderte Sara nachdenklich und versank erneut in stilles Grübeln.
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Benjamin, Pia und Malek schliefen tief und fest, zwischen den mächtigen, weichen Pranken des Greifs.
Das Mischwesen bewachte ihren Schlaf. Da es selbst eigentlich nie schlief, höchstens etwas ruhte, fiel ihm das nicht schwer. Für ihn, der sonst fast nie Gesellschaft hatte, war die Gegenwart dieser kleinen Geschöpfe zu seinen Pfoten, eine Freude und eine Bereicherung. Sie vertrauten ihm blind und hatten keinerlei Furcht vor ihm.
Der Greif konnte in ihnen wie in einem offenen Buch lesen. Er sah ihre Ängste, ihre Zweifel und ihre Schwächen, doch auch ihre Zuversicht, ihr Vertrauen und ihre grossen Stärken.
Nur bei Malek nahm er noch etwas wahr, das irgendwie im Schatten verborgen lag. Etwas das dieser, ob bewusst oder unbewusst, vor ihm verbarg. Der Greif hätte gerne gewusst, was es war. Doch bisher hatte er es nicht herausfinden können.
So schloss er ebenfalls ein wenig seine Augen und döste vor sich hin, während er auf die regelmässigen Atemzüge seiner drei Gäste lauschte.
Auf einmal jedoch wurde Malek unruhig. Er begann sich hin und her zu wälzen und murmelte leise vor sich hin. Sogleich war die Aufmerksamkeit des Greifs wieder geweckt und er tauchte erneut in das Innenleben des Magiers ein. Dieser hatte zweifellos einen lebhaften, eher düster anmutenden Traum.
Auf einmal fand sich das Mischwesen in einer ziemlich unheimlichen Umgebung wieder. Er stand plötzlich auf einer breiten, schwarzen, ziemlich hohen Mauer und blickte hinab auf eine dunkle Stadt. Diese war anders als die üblichen, königlichen Städte, nach abwärts gebaut, lag also in einem Art Kessel.
Die äussersten Mauern waren die höchsten und je weiter es hineinging, umso tiefer unten lagen die Mauern und Gebäude. Am tiefsten Punkt, befand sich eine kohlrabenschwarze Festung. Zwischen dem äussersten Mauerringt, auf der sich der Greif aufhielt, und dem nächsten Ring, gab es einen Art Burggraben, welcher mit erstarrter Lava ausgekleidet zu sein schien. Darin befand sich eine Flüssigkeit, welche ziemlich trüb und bräunlich aussah. Diese lief in Kaskaden hinunter in den nächsten Ring und wieder in den Nächsten, bis sie den untersten Ring erreichte. Dort teilte sich der Strom in viele Kanäle auf, welche die ganze Stadt durchzogen.
Überall trieben sich seltsame, weissliche, ziemlich bizarre Kreaturen herum, welche die unterschiedlichsten Arbeiten verrichteten. Überall an den Mauern, waren verschiedenste Dämonen und sonstigen monströsen Kreaturen fest gekettet.
Auf der anderen Seite der Mauer, auf der das Mischwesen stand, fielen dunkle Klippen steil ab und zu deren Füssen brodelte ein Meer, das wie Blut aussah.
Es gab aber auch noch andere, eher humanoider wirkende Kreaturen, in der Umgebung der finsteren Stadt, mit einem sehnigem Körperbau. Sie besassen ausgemergelte Gesichter, strähnige, lange Haare und grosse schwarzen Flügel, welche aus Federn bestanden, die scharf wie Dolche waren.
Sie trugen vorwiegend Sicheln, Dolche, Schwerter oder lange Geisseln, in ihren, mit langen Nägeln bewehrten Händen und viele von ihnen patrouillierten auf den Mauern.
„Was um alles in der Welt ist das?“ fragte sich der Greif. „Wovon träumt Malek da? Hat das alles vielleicht etwas mit seiner dunklen Vergangenheit, als Diener der Finsternis zu tun?“ War Malek wohl irgendwo hier?
Das Mischwesen blickte sich suchend um und tatsächlich sah es den Magier nun auf der untersten Wehrmauer stehen! Er wirkte klein und so zerbrechlich in diesem Moment. Der Greif näherte sich vorsichtig, bis er sich direkt hinter dem Magier befand. Er wollte diesen bei seinem Namen rufen.
Doch sogleich erstarben die Worte wieder auf seinem Schnabel, denn auf einmal tauchte ein riesengrosser, grobschlächtiger Mann, mit nur einem Auge, vor ihnen auf!
Er war so gewaltig, dass er, auch wenn er auf dem am tiefsten liegenden Platz stand, worauf sich die schwarze Festung befand, Malek auf der untersten, noch immer recht hohen Wehrmauer, direkt in die Augen schauen konnte.
Eine ungezähmte Wildheit ging von diesem Riesen aus. Allerdings nahm ihn der Greif nicht als bösartig wahr, sondern er gemahnte das Mischwesen eher an eine uralte, noch aus den Zeiten des Chaos stammende Kraft.
Auch wenn er Maleks Gesicht nicht sehen konnte, so spürte der Greif, dass sich jener nicht sonderlich wohl in seiner Haut fühlte. Dennoch richtete der Magier zuerst das Wort an den gewaltigen Riesen.
„Balorion!“ sprach er. „Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns schon so bald wieder sehen…!“