Je näher die Zeit des Abschieds rückte, umso trauriger wurden Benjamin und Sara. Sie kosteten deshalb jeden Moment, der ihnen noch blieb, vollkommen aus. Es war eine sehr schöne, leidenschaftliche Zeit.
Am letzten Abend vor Bens Abreise, schlenderte das Liebespaar noch etwas durch den Schlossgarten. Sie machten Halt an ihrem Lieblingsplatz, auf dem Bank, an dem kleinen Schwanenteich. Dort sassen sie nun zusammen Hand in Hand und schwiegen sich eine Weile, erfüllt von tiefem Kummer, einfach nur an.
Schliesslich ergriff Sara jedoch das Wort: „Dann ist es also so weit, Morgen reist ihr wieder ab. Du wirst mir sehr fehlen.“
„Du mir auch,“ sprach Benjamin, legte den Arm um die junge Frau und zog sie ganz eng an sich. „Manchmal bin ich es echt leid, einer der Grossen Führer zu sein.“
„Und doch…, müssen wir alle unsere Aufgaben im Sinne eines grösseren Ganzen erfüllen,“ gab Sara zurück und bemühte sich ihrer Stimme einen zuversichtlichen Klang zu verleihen.
Ben nickte und einmal mehr schwiegen sie sich an. Einen Moment lang war es ihnen, als wären sie ganz allein auf der Welt. Zarte, durchsichtige Mücklein tanzten in der goldenen Abendsonne, das Wasser des Teiches plätscherte leise und die Schwäne und Enten hatten bereits ihren Kopf unter das Gefieder gesteckt, um zu schlafen.
All das sah so friedvoll aus und doch tobte ein Sturm in Benjamin. Er betrachtete Sara, bewunderte ihr schönes Profil, ihr dunkles, lockiges Haar, in dem der laue Abendwind spielte. Sie bemerkte seinen Blick und erwiderte ihn mit ihren grossen, blauen Augen. Sanft streichelte Ben nun ihr Gesicht und küsste sie dann voller Zuneigung und Leidenschaft. „Ich liebe dich so sehr!“
„Ich dich auch, … unsagbar,“ hauchte sie und erwiderte seinen Kuss mit derselben Intensität. Sich immer weiter küssend, liessen sie sich schliesslich in das weiche Gras, neben der Bank, fallen und dort liebten sie sich das vorerst letzte Mal, im rotorangen Licht der untergehenden Sonne.
Am nächsten Tag trafen sich alle wieder im Speisesaal. Die Königsfamilie und auch die anderen, welche Benjamin, Pia und Malek gut kannten, gaben ihnen viele Glück- und Segenswünsche mit auf den Weg und baten die drei, bald wieder im Juwelenschloss vorbeizuschauen.
Doch Benjamin und Sara bekamen davon kaum etwas mit. Zu grosse war ihr Kummer, über den bevorstehenden Abschied. Pia konnte es ihnen von Herzen nachfühlen, war es ihr und Hungoloz, bei ihrem letzten Abschied, doch ganz ähnlich ergangen. Sie hatte es damals beinahe nicht ertragen ihn wieder zu verlassen und sie sehnte sich jeden Tag nach ihm.
Auf jeden Fall mussten sie nochmals im Waldreich vorbeischauen, bevor sie sich schliesslich auf den Weg ins Erdreich machten. Es kam Pia schon eine Ewigkeit vor, seit sie und der Waldelf sich in den Armen gelegen hatten und im flackernden Licht der Lagerfeuer, den heiligen Bund eingegangen waren. Die letzte Nacht vor der Abreise war eindeutig die Schlimmste, das wusste sie nur zu gut.
Es schmerzte sie, Benjamin so traurig zu sehen, denn sie liebte ihren Bruder sehr. Seit frühester Kindheit hatten sie immer alles gemeinsam durchgestanden und geteilt. Und seit ihrer ersten Reise ins Märchenreich, waren sie noch enger zusammengewachsen. Benjamin war, neben ihren Eltern, immer der wichtigste Mensch in Pias Leben gewesen. Doch irgendwann würden sich ihre Wege wohl endgültig trennen, jetzt da beide drauf und dran waren, ihre eigene Familie zu gründen. Da weder Sara noch Hungoloz ins Menschenreich reisen konnten, würden Pia und Benjamin wohl hierbleiben müssen. Pia im Waldreich und Benjamin im Reich der hundert Juwelen. Eine Distanz die nicht zu unterschätzen war. Doch es nützte nichts, schon jetzt darüber nachzudenken. Ben brauchte nun ihre Unterstützung besonders, so legte sie ihm tröstend die Hand auf die Schulter, als sie sich zur Abreise bereit machten. Der blonde Mann lächelte sie bekümmert an und drückte Sara ein letztes Mal an sich. „Ich komme bald zu dir zurück Geliebte, das verspreche ich dir!“ sprach er, während ein unsagbarer Schmerz sein Herz zu zerdrücken drohte. „In der kommenden Nacht, werden wir uns auf der Sternenbrücke treffen!“ Sara nickte unter Tränen. Der blonde Mann küsste sie nochmals leidenschaftlich, dann wandten er und seine Begleiter sich um und machten sich einmal mehr auf den Weg, zu noch unbekannten Abenteuern.
Schon bald fanden sie einen geeigneten Meditations- Ort, inmitten eines kleinen Tannenhains. Diesmal fiel es Benjamin jedoch sehr schwer, innerlich zur Ruhe zu kommen, denn immer wieder reisten seine Gedanken zu Sara zurück und seine Sehnsucht nach ihr, überschattete gerade alles. Es wurde ihm nun, da er wieder von ihr getrennt war, so richtig bewusst, wie sehr er sie doch liebte.
Pia ihrerseits, konnte es kaum erwarten, wieder ins Kristallreich zu gelangen, denn dort befand sich auch die Heimat ihres geliebten Hungoloz, der sie bestimmt schon sehnsüchtig zurückerwartete. So war die blonder Frau auch die Erste, deren Körper herüber in die Kristallwelt wechselte. Benjamin erschrak beinahe, als sie innert kürzester Zeit verschwand. Malek verschwand sogleich nach ihr, wohl in der Erwartung, dass Ben ebenso folgen würde. Doch der blonde Mann hatte noch nicht einmal die erste Phase der Sphärenwanderung durchlaufen.
Pia und Malek bemerkten vorerst nicht, dass er ihnen nicht folgte und fanden sich in der Zauberkammer des Kristallschlosses wieder. Manuel, der sich ebenfalls gerade dort befand und einige Bücher studierte, sprang etwas erschrocken vom Tisch auf. Als er die beiden Freunde jedoch erkannte rief er: „Pia, Malek! Ihr seid zurück!“ Freudig umarmte er sie. Dann blickte er sich um. „Aber… wo ist Benjamin? Ist er nicht mit euch gekommen?“
„Benjamin?“ fragte Malek und blickte sich suchend um: „Ich dachte eigentlich, er ist gleich hinter uns.“
„Ja das dachte ich auch,“ sprach Pia „vielleicht müssen wir noch etwas warten. Er leidet gerade ziemlich unter seiner Trennung von Sara.“
„Sara?“ fragte Manuel. „Wer ist das?“ „Klar! Das weisst du ja noch gar nicht. Benjamin hat sich in ein Mädchen namens Sara verliebt. Diese lebt im Juwelenschloss, als Mündel ihrer Tante Magdalena. Magdalena wurde damals, als Malek noch böse war, von ihm in ein Huhn verzaubert und in die Trollen- Welt verbannt. Sie war einst die Amme von Nofrete.“
Manuel versuchte sich an sein Wissen, das er als Ululala gehabt hatte, zu erinnern und tatsächlich kam ihm diese Geschichte bekannt vor.
„Ja,“ meinte er deshalb. „Ich glaube mich an Magdalena zu erinnern. Und diese Sara ist also deren Nichte?“
„Genau. Sie und Benjamin, haben sich unsterblich ineinander verliebt und es fiel Ben deshalb sehr schwer, das Juwelenreich zu verlassen. Das könnte ein Grund sein, warum ihm die Sphärenwanderung hierher nicht gelungen ist. „Müssen wir uns deswegen jetzt ernste Sorgen machen?“ fragte Manuel „oder meint ihr, es wird ihm etwas später doch noch gelingen?“
„Das könnte sein,“ meinte Malek. „Ich denke… wir warten noch ein wenig ab. Wenn er in einer Stunde nicht hier ist, dann werden wir nochmals zurückreisen und nachsehen was los ist.“
„Es wird Hungoloz allerdings nicht sonderlich gefallen, wenn Pia gleich wieder fortgeht, jetzt da er sich gerade ebenfalls im Kristallschloss aufhält,“ meinte Manuel mit einem leichten Grinsen auf den Stockzähnen.
Pias Herz machte vor Freude einen Hüpfer. „Hungoloz… ist hier?!“
„Ja, stell dir vor! Er ist gestern hier angekommen, zusammen mit Tartaloz. „Tartaloz ist auch da? Aber warum?“
„Es sieht ganz so aus, als ob die beiden das Kristallschloss vermisst hätten. Sie werden sogar etwas länger hierbleiben, denn Lumniuz und ich werden ebenfalls bald auf eine Reise gehen. Doch kommt erst einmal mit und begrüsst die beiden! Sie halten sich gerade im grossen Gemeinschaftssaal auf.“
Das liess sich Pia nicht zweimal sagen. Schnell wie der Wind, lief sie davon und machte sich auf, zu der besagten Räumlichkeit, Manuel und Malek folgten ihr verständnisvoll lächelnd.