Der Greif schwieg erneut und durchbohrte nun Ben mit seinem Adlerblick. Dieser jedoch hielt seinem Blick entschlossen stand. Das gewaltige Mischwesen entspannte sich nun etwas und legte seinen Kopf auf seine mächtigen Vorderpranken, während er die Freunde jedoch weiterhin nicht aus den Augen liess. Der energetische Sturm der bisher noch immer um ihn herum gewütet hatte, verzog sich nun und die Freunde atmeten unmerklich etwas auf.
„Mutig seid ihr auf jeden Fall,“ sprach der Greif nun etwas versöhnlicher. „Und ihr habt zweifellos ein gutes Herz. Das habe ich gesehen. Eure Liebe zu den Geschöpfen des Omniversums ist gross, so wie auch meine Liebe zu ihnen gross ist.“
Malek trat nun ebenfalls vor und sprach: „Das wissen wir und darum haben wir dich ja auch aufgesucht. Uns ist bewusst, dass du sehr weise und mächtig bist, und wir bringen dir unsere grösste Hochachtung entgegen. Wir hätten dich bestimmt nicht belästigt, wenn es sich nicht um eine Sache grösster Dringlichkeit handeln würde. Bitte hilf uns, grosser Greif! Hilf uns diesen schrecklichen Riesenkult zu bekämpfen und wenn du etwas über den Schlüssel zu Obislavs Welt weisst, bitte teile dieses Wissen mit uns!“ Mit diesen Worten bog Malek vor dem gewaltigen Mischwesen sein Knie und blickte flehend zu ihm auf. Der goldene Greif hob wieder etwas seinen Kopf und sprach: „Der grosse Malek kniet tatsächlich vor mir! Du hast dich wirklich sehr verändert in den letzten Jahren.“
„Du weisst also, wer ich bin?“
„Ja natürlich! Wie sollte ich das auch nicht wissen. Nichts bleibt lange vor meinen Augen verborgen.“
Er wandte sich nun wieder an Pia und Benjamin, welche nun ebenfalls ihre Knie vor ihm gebeugt hatten. „Und dass ihr die Grossen Führer seid, hättet ihr mir auch nicht auf den Schnabel binden müssen. Natürlich habe ich euch von Anfang an erkannt.“
„Du hast uns erkannt?“ wollte Benjamin etwas ärgerlich wissen „aber warum hast du dich uns gegenüber dann so… unfreundlich verhalten?“ „Unfreundlich?“ Der Greif neigte sein riesiges Adlerhaupt von einer Seite zur anderen, als würde er angestrengt nachdenken. „Ihr findet…, ich war unfreundlich?“
„Ja, eigentlich… warst du schon etwas unfreundlich. Besonders zu meiner Schwester,“ erwiderte der blonde Mann mutig. „Sie macht sich schon mehr als genug Selbstvorwürfe, wegen dem Medaillon. Du hättest ihr das nicht auch noch auf diese Weise vorwerfen müssen.“
„Ach, ihr sterblichen Wesen seid manchmal so sensibel!“ meinte der Greif. „Das habe ich wohl vergessen. Wir Greife gehören normalerweise nicht zu den Geschöpfen, die ein Blatt vor den Mund nehmen.
„Ja, das haben wir gemerkt.“
„Sollte ich euch verletzt haben, dann bitte ich euch um Verzeihung,“ gab der Greif zurück. „Ich werde meine Worte in Zukunft etwas bedachter wählen.“
„Du… entschuldigst dich bei uns?!“ Nun war Benjamin baff.
„Ja, schliesslich müssen wir alle immer wieder dazulernen, nicht wahr? Aber steht doch wieder auf!“ Der Greif wedelte etwas genervt mit seiner rechten Vorderpranke. „Ihr müsst vor mir nicht zu Kreuze kriechen. Solches Gebaren ist mir zuwider.“
„Wir dachten, du verlangst das von uns,“ sprach Pia. „Du hast bisher nicht wirklich den Eindruck erweckt, als wollest du uns helfen.“
„Habe ich denn gesagt, ich wolle euch nicht helfen?“
„Nein, das nicht direkt, aber…“
„Ach, vielleicht weil ich sagte, wie ihr darauf kommt, dass eure Anliegen wichtiger sind als jene der anderen Lebewesen?“
„Ja, z.B.“
„Das war eigentlich vor allem, um euch auf die Probe zu stellen. Ich musste zuerst eure Seelen genauer in Augenschein nehmen und herausfinden, ob euch die ganze Grosse Führer-Geschichte, mittlerweile nicht zu sehr zu Kopfe gestiegen ist und ihr eure Anliegen womöglich als wichtiger als jene der anderen Mitgeschöpfe erachtet. Ich kam dann aber zu dem Schluss, dass ihr reinen Herzens seid und, nach euren Möglichkeiten, das Beste tut, was ihr könnt. Es geht euch nicht um euch selbst, sondern um das Glück anderer. In diesem Fall z.B., um das Glück der Zwerge…“
Sein scharfer Adlerblick richtete sich nun auf Sebius, welcher sich bisher stets im Hintergrund gehalten hatte.
„Tritt näher, tritt näher!“ forderte er den Zwerg auf. „Ich werde dir schon nichts tun und…“ Er hielt auf einmal inne und seine Augen weiteten sich „und auch… dem kleinen… Ach du meine Güte!“ rief er dann. „Ist das denn die Möglichkeit!?“
Der Greif sprang urplötzlich auf und setzte mit einem mächtigen Sprung über die Geschwister und Malek. Deutlich spürten die drei dabei den Luftzug seiner gewaltigen Schwingen.
Sebius wich etwas erschrocken zurück und hielt seine Arme schützend um Lumnije.
Doch der Greif liess sich ganz nahe vor ihm, wieder auf die Erde sinken und neigte sein riesiges Haupt. Mit einer Sanftheit, die man diesem gewaltigen Wesen kaum zugetraut hätte, betrachtete er das kleine Baby auf Sebius Armen. „Ein Mädchen, ein Zwergen- Mädchen!“ sprach er. „Kaum zu glauben!“
„J…ja,“ stotterte der Zwerg und hob seine Tochter etwas in die Höhe. Diese war nun wieder wach und ihre dunklen Augen, richteten sich furchtlos auf den riesigen Kopf des Greifs.
„Das ist Lumnije meine Tochter,“ sprach Sebius und jetzt schwang Stolz in seiner Stimme mit. „Die erste Zwergin seit Jahrtausenden!“
Der Greif wirkte äusserst entzückt, hob vorsichtig seine Pranke und stupste das kleine Mädchen, mit eingezogenen Krallen, sanft an. Lumnije prustete dabei vergnügt.
„Welch ein Wunder!“ freute sich das Mischwesen. „Und du wurdest als ihr Vater auserwählt?“
„Ja,“ gab Sebius etwas verlegen zurück.
„Das ist wahrhaft eine grosse Gnade! Ist dir das auch bewusst?“ fügte der Greif dann etwas strenger hinzu.
„Ja natürlich!“ erwiderte der Seher.
„Ein wahrhaft wunderschönes Kind!“ schwärmte das goldenen Mischwesen. „So hat die Erdmutter also tatsächlich ihr Blut mit dem deinen vermischt, und den schon so lange anhaltenden Fluch, der über dem Zwergenvolk lag, endlich aufgehoben.“
„Ja, und ich bin unendlich dankbar dafür!“ sprach Sebius innbrünstig. „Und doch… ist da trotzdem eine gewisse Trauer in dir?“ stellte der Greif mit einem prüfenden Blick fest.
Der Seher schaute zu Boden und meinte dann mit leiser Stimme: „Ich weiss, dass es eigentlich nicht mein Recht ist. Aber… als sich das Blut der Erdmutter mit dem meinen vermischte, war das ein so überwältigendes Gefühl! Ein Gefühl das ich bisher noch nie in meinem Leben empfunden habe…“
Der Greif wiegte verständnisvoll sein Haupt hin und her, sagte jedoch nichts. „Seit… diesem Ritual beim Geburtshügel…“ fuhr Sebius fort „kann ich… an nichts anderes mehr denken. Die Erdmutter… sie sagte mir, dass sie mich besonders gerne mag. All das… ist so verwirrend…und…“
„…Und auf einmal glaubst du deine bisherige Einsamkeit nicht länger ertragen zu können, habe ich recht?“ vollendete das Mischwesen seinen Satz. „Ja!“ antwortete der Zwerg. „So ist es tatsächlich! Ich will einfach nicht mehr einsam sein. Ich… ich, ach es ist idiotisch, ich weiss!“
„Das ist es ganz und gar nicht,“ tröstete ihn der Erden-Greif. „Du hast bisher solch starke Gefühle einfach noch nicht gekannt. Denn du warst stets daran gewöhnt, ohne ein weibliches Gegenstück zu leben. Darum konntest du auch nicht ermessen, wie wunderbar eine tiefe Verbindung zu so einem Gegenstück sein kann.“
Sebius nickte: „Ja, damit hast du vermutlich recht.“ Und wieder verzehrte sich sein Herz in Sehnsucht, nach der sanften Berührung der Erdmutter und er glaubte all das kaum mehr ertragen zu können.
„Das was du da empfindest, ist ganz natürlich,“ meinte der Greif. In beinahe jedem Lebewesen, schlummert die Sehnsucht nach der Vereinigung mit einem Gegenstück. Durch den Fluch, der damals durch den ersten Zwergen- Mann heraufbeschworen wurde, wurde euch Zwergen, diese Art von Gegenstück entzogen. An euch sollte offenbar werden, wie wichtig beide Geschlechter oder schlicht die Gegenpole des Weiblichen und des Männlichen sind. Viele deines Volkes, haben sich deshalb immer irgendwie unvollständig gefühlt, doch nun bricht eine ganz neue Ära für euch an! Ein jeder von euch, braucht ein Gegenstück und in jedem dieser Gegenstücke, ist ein Teil des anderen. (kurze Anmerkung der Autorin: Natürlich ist auch bei gleichgeschlechtlichen Partnern, die sich sehr lieben, das mit dem Gegenstück gegeben. Nicht dass sich jemand diskriminiert fühlt).
Die Hüterin der Erde, welche einst die allererste Zwergenfrau war, ist durch dieses kleine Wesen auf deinem Arm, einen ganz besonderen Bund mit dir und damit auch indirekt mit deinem Volke eingegangen. Einen Bund der nicht nur körperlicher, sondern auch geistiger Natur ist. Dadurch hast du das erste Mal eine ganz neue Art der Liebe kennengelernt.“
„Eine neue Art… der Liebe…“ echote Sebius.
„Richtig. Das was zu empfindest, ist Liebe. Tiefe Liebe für das Gegenstück von dir und das ist, in deinem Fall, die Erdmutter. Leider wird diese Liebe jedoch unerfüllt bleiben.“
„So etwas Ähnliches sagte mir auch schon die Hüterin der Erde selbst.“
„Ja und irgendwann wirst du dich damit abfinden müssen, dass sie und du kein Paar sein könnt.“
„Aber… es ist so schwierig,“ erwiderte der Seher bekümmert. „Diese Gefühle… ich kann sie einfach nicht abschalten.“
Wieder wiegte der Greif mitfühlend seinen Kopf. „Ich verstehe dich. Irgendwann jedoch wirst du davon Abstand nehmen müssen, auch um deiner Tochter willen.“
„Ja. Ich will Lumnije ja auch wirklich ein guter Vater sein. Vermutlich kann ich das nur…, wenn ich… mich ganz auf sie konzentriere.“
„Das ist wahr. Im Augenblick ist das der einzige Weg,“ entgegnete der Greif und in seiner mächtigen Stimme lag nun so viel Mitgefühl, dass die Geschwister nur so staunten. Erst jetzt sahen wie, wieviel Liebe dieses mächtige Wesen doch für die anderen Geschöpfe aufzubringen vermochte. Sebius nickte etwas bekümmert. Dann sprach er: „Ich hoffe nur…, dass diese Geschichte mit den Riesen, nicht noch alles zerstört.“
„Es ist tatsächlich eine üble Geschichte mit diesem Xandrax- Kult,“ meinte der Greif zustimmend. „Schon eine ganze Weile beobachte ich diese Frevel und ich denke, dass nun das Mass endgültig voll ist. Darum werde ich euch bei dieser Angelegenheit auch beistehen! Es wird Zeit, dass jemand dieser Verderbnis ein Ende setzt und den Tempel dieses falschen Gottes dem Erdboden gleich macht.“
„Hast du denn eine Ahnung, wer hinter Xandrax und seinem Priester steht?“ fragte Benjamin neugierig.
„Ja, mittlerweile bin ich sicher, dass diese ganzen Abscheulichkeiten ein Werk des Fahlen Ritters sind!“