Tiefe Gedanken eines Wolfes
Während immer mehr Geschöpfe aus den verschiedensten Welten in die Himmelsstädte gebracht wurden, führte Manuel seine Ausbildung mit neuer Motivation fort. Der Erden- Greif begleitete ihn noch eine ganze Weile und sein Training verlangte Manuel oft sehr viel ab. Mit der Zeit jedoch, wurde es immer leichter und leichter. Der 20- jährige entwickelte viel mehr Ausdauer und seine Muskelmasse baute sich ebenfalls mehr und mehr auf. Eines Abends dann, als die beiden wieder zusammen beim Abendessen sassen, meinte der Greifen- Mann: „Es wird Zeit. Ich denke du hast vorerst genug von mir gelernt und bist so fit wie noch nie zuvor.“
„Das kann man wohl sagen,“ erwiderte der Junge. „Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals zu solchen Leistungen fähig sein würde.
Vielen Dank, dass du dir so viel Zeit für mich genommen hast. Anfangs war es wirklich schlimm, aber tatsächlich haben sich meine körperlichen und auch mentalen Grenzen deutlich nach oben verschoben.“
„Das war auch das Ziel. Du darfst jetzt zwei Tage Pause machen und dann wird sich der Feuer- Greif erneut bei dir melden. Mit ihm wirst du deine Waffenfertigkeiten weiterhin verbessern. Auch meine beiden Schwestern werden bei Gelegenheit mal vorbeischauen. Sie werden dir aber andere Dinge beibringen.“
„Was denn für Dinge?“
„Das wirst du schon sehen.“
Manuel hakte nicht weiter nach, denn er kannte den Erden- Greif mittlerweile gut genug um zu wissen, dass dieser nur das erzählte, was er wirklich wollte oder durfte. So meinte er: „Du wirst mir fehlen. Ich habe deine Gesellschaft sehr genossen. Der Feuer- Greif blieb nie so lange hier, als er mich trainierte. Er verschwand immer bei Einbruch der Nacht.“
„Er musste sich ja auch nicht um eine angemessene Ernährung kümmern. Wenn man körperlich jedoch so hart trainiert, wie wir es getan haben, müssen auch die Mahlzeiten gut darauf abgestimmt sein.“
„Es wird allerdings schwierig werden, den Ernährungplan, den wir miteinander aufgestellt haben, weiterhin zu verfolgen. Ich habe gar nicht die Möglichkeit mir stets so viele gute Zutaten zu kaufen. Da müsste ich ja fast jeden zweiten Tag nach Turuchansk, denn ich habe keine Schlitten, den ich mit all den Dingen die ich bräuchte, beladen könnte.“
„Du hättest gerne einen Schlitten?“
„Ja, eigentlich schon. Dann könnte ich auch mal mehr oder grössere Dinge damit transportieren.“
„Also gut, wenn du mir versprichst, dass du dir weiterhin Mühe gibst mit der Ernährung, werde ich dir einen Schlitten beschaffen.“
„Das könntest du tun?“
„Ja, du weisst wir Greife haben einige Möglichkeiten.“
„Das wäre natürlich wunderbar!“ Manuel strahlte.
Der Greifen- Mann fügte jedoch mit strengeren Stimme hinzu: „Aber das heisst nicht, dass du dich jetzt einfach wieder auf deinen Lorbeeren ausruhen darfst! Du solltest dich so oft wie möglich bewegen und dein Training, auch ohne mich, weiterführen.“
Der Junge nickte: „Ja, ich vespreche es!“
„Also gut. Morgen kannst du dich über einen neuen Schlitten freuen. Nun werden wir aber unser vorerst letztes Abendessen so richtig geniessen. Ich habe sogar etwas Wein hier.“
„Ich darf Wein trinken?“
„Ja… ausnahmsweise.“
„Das ist aber eine schöne Überraschung!“
Der Greif holte eine Flasche Wein aus einem der Schränke und goss Manuel ein Glas ein. Fröhlich prosteten die beiden einander zu und machten sich dann über die leckeren Speisen her.
Am nächsten Morgen, war der Erden- Greif wieder verschwunden. Manuel war ziemlich traurig deswegen und fühlte sich im ersten Moment richtig einsam.
Als er dann jedoch aus dem Haus trat, wurde seine Trauer wieder durch Freude abgelöst. Denn dort stand tatsächlich ein wunderschöner, nagelneuer Hornschlitten, den man gut hinter sich herziehen konnte und auf dem einiges an Fracht Platz fand.
„Was ist denn das für ein komisches Ding?“ hörte er auf einmal eine Stimme in seinem Geist. Er drehte sich um und erblickt Simao den Wolf, welcher den Schlitten argwöhnisch musterte.
„Das ist ein sogenannter Schlitten,“ erklärte ihm Manuel. „Damit kann ich mehr und schwerere Waren transportieren und wenn es abwärts geht, kann ich sogar auf ihn draufsitzen und ein Stück fahren.“
„So etwas habe ich noch nie gesehen.“
„So etwas wird aber von vielen Menschen benutzt.“
„Wie du weisst, meiden wir so gut als möglich den Kontakt zu den Menschen.“
„Ist vermutlich auch besser so,“ musste Manuel zugeben. „Ich habe dich übrigens schon eine Weile nicht mehr gesehen. Geht es dir und deinem Rudel gut?“
„Ja, es geht uns gut. Du hattest ja auch nicht viel Zeit.“
„Ich musste trainieren, damit ich für die wichtigen Aufgaben, die mir noch bevorstehen gewappnet bin.“
„Mein Rudel und ich haben dich ab und zu aus der Ferne beobachtet. Der Mann, der hier war, hat dich ziemlich gequält. Manchmal überlegte ich mir sogar, ob ich dir zur Hilfe eilen soll.“
Der Junge lachte: „Nur keine Sorge. Die Quälerei hat sich gelohnt, ich bin nun viel kräftiger und ausdauernder geworden.“
„Kraft und Ausdauer ist immer gut. Besonders wenn es ums Jagen geht. Bereitest du dich denn auf eine Jagd vor?“
Manuel überlegte einen Moment lang, dann erwiderte er: „Ja, das könnte man wahrscheinlich so sagen. Nur dass ich jene die ich jagen muss, nicht jage, um sie zu fressen.“
„Aber warum sollte man denn sonst jagen?“ fragte der Wolf, legte seinen Kopf leicht schief und musterte Manuel etwas ratlos.
„Um die Welt zu retten.“
„Die Welt retten? Das… verstehe ich nicht.“
„Es gibt einige sehr böse Menschen, die grosses Unheil anrichten werden, wenn ich sie nicht stoppe.“
„Betrifft das auch uns Wölfe?“
„Ja, es betrifft alle Lebewesen. Denn diese bösen Menschen haben schreckliche Waffen.“
„Du meinst Gewehre und Dynamit?“
„Viel schlimmer noch. Es sind Waffen die unglaubliche Zerstörung anrichten.“
„Das klingt nicht gut.“
„Nein, allerdings nicht. Darum musste ich auch so fleissig trainieren. Wie du weisst, wartet eine grosse Aufgabe auf mich. Wenn ich mich bewähre, werden hoffentlich alle Geschöpfe bald in Eintracht und Frieden zusammenleben.“
„Ich hörte in unseren alten Wolfslegenden auch schon von so einer Zeit. Es hiess dort, dass wir Wölfe irgendwann wie die Schafe auf der Wiese weiden werden und kein Fleisch mehr brauchen.“
Manuel dachte erneut angestrengt darüber nach, dann meinte er: „Vielleicht wäre so etwas in der neuen Welt ja wirklich möglich. Bis dahin aber, werden du und deine Artgenossen wohl nicht ohne Fleisch auskommen.“
„Es wäre jedoch besser, wenn wir es früher lernen würden.“
„Aber eure Körper, sind dafür nicht ausgelegt. Ihr seid vorwiegend Fleischfresser, das wird sich nicht von heute auf Morgen ändern.“
„Dennoch will ich es mehr und mehr versuchen. Denn manchmal denke ich, wir Wölfe würden viel weniger Hunger leiden, wenn wir uns auf andere Nahrungsquellen umstellen könnten. Ausserdem… mache ich mir immer mehr Gedanken darüber, wie sich all die Lebewesen fühlen müssen, die von uns aufgespürt, gehetzt und schliesslich zerfleischt werden.“
„Das du dir solche Gedanken machst, ist wirklich erstaunlich,“ sprach Manuel beeindruckt. „Vielleicht wäre ja vorerst Fisch als
Ersatz- Nahrungsquelle möglich.“
„Fisch…? Das findet man hier im Winter nirgends. Alle Seen sind zugefroren.“
„Vielleicht könnten wir ja mal zum Eisfischen gehen. Das wollte ich schon immer mal ausprobieren. Es hat sogar noch eine alte Angel im Schuppen. Wir könnten zum Fluss Jenissei runter gehen und dort unser Glück versuchen. Dieser ist nur teilweise von Eis bedeckt.“
Der Wolf hielt das für eine gute Idee und kurz darauf, waren er und Manuel unterwegs zum nahegelegenen Flussufer.