„Das kann jeder behaupten!“ gab der stopplige Riese herausfordernd zur Antwort. Doch der Priester gebot ihm still zu sein: „Du solltest vorsichtig sein, wenn du ein so mächtiges Wesen, wie diesen Greif, herausforderst. Du hast gesehen, wieviel Macht er hat. Und der Lichtstrahl, den er vom Himmel herabrief, machte Xandrax, wenn er denn überhaupt Xandrax war und nicht doch ein Scharlatan, auch ziemliche Angst. Sonst wäre er nicht einfach so verschwunden. Ich glaube… wir können nicht weiter auf unseren vermeintlichen Gott zählen!“
„Wie kannst du so etwas nur sagen? Du, der du sein Priester warst!“ empörte sich der stopplige Riese.
„Ja. Das war ich. Doch die Ereignisse der letzten Stunden, haben mich doch an manchem zweifeln lassen. So hat Xandrax oder dieser Ritter z.B. keinerlei Rücksicht auf uns genommen, als er seine Götterstatue zum Leben erweckte. Er hätte uns alle einfach niedergetrampelt. Ich glaube, dass kein guter Gott so mit seinen Dienern umspringen würde.“
„Welch ein Unsinn!“ rief der Stopplige. „Xandrax hatte einfach eine wichtigere Aufgabe. Wir alle sind unbedeutend, in diesem gewaltigen Spiel. Aber er hat sich uns zugewandt. Er gab uns das Gefühl bedeutend zu sein. Er wollte uns den uns gebührenden Platz in der Welt verschaffen. Wie kannst du ihn jetzt auf so schändliche Weise verraten!“
In den Reihen der anderen Riesen erhob sich teils zustimmendes, teils ablehnendes Gemurmel.
„Ruhe jetzt!“ unterbrach nun wieder die donnernde Stimme des Greifs die Diskussion. „Machen wir es kurz! Wer der Meinung dieses stoppelbärtigen Riesen hier ist, soll sich an seine Seite stellen! Alle die bereit sind einen anderen Weg zu gehen, stellen sich auf die Seite des… Priesters.“
Bleierne Stille machte sich auf einmal breit und nur wenige Riesen, wagten es, sich für eine Seite zu entscheiden.
„Na los!“ rief das Mischwesen. „Nun steht wenigstens zu eurer Sichtweise und seid nicht so feige!“
So langsam kam die Schar der Giganten in Bewegung und die meisten von ihnen, stellten sich auf die Seite des Priesters. Einige aber, stellten sich auch auf die Seite des stoppligen Kerls.
„Nun… ich seid ja ziemlich mutig!“ sprach der Greif sarkastisch zu ihnen. „Dann könnte ihr euren Mut sogleich wahrhaftig unter Beweis stellen!“ In diesem Moment tat sich der Boden unter den Füssen, der noch immer Xandrax- treuen Riesen auf und sie und auch noch einige andere, die sich bisher noch nicht offen zu einer Seite bekannt hatten, wurden von der Erde einfach verschlungen!
Der Priester und die anderen noch Übriggebliebenen sprangen erschrocken zur Seite. „W… wo sind sie!“ riefen einige entsetzt. „Hast du… sie getötet?“ Doch der Greif erwiderte: „Nein, ich habe sie nicht getötet aber durch ein magisches Portal in ein anderes Land geschickt.“
„In was für ein Land?“
„In ein Land, wo es Wesen gibt, die alle gleich gross oder noch grösser als sie selbst sind. Mal sehen, wie sie sich dort bewähren.“
„Hat er sie… womöglich auf die Titanen- Insel verbannt?“ frage Zyklopus etwas erschrocken an die Geschwister gewandt.
„Das wäre vielleicht möglich,“ erwiderte Benjamin. „Aber… dort werden sie kaum überleben!“
„Sie werden sich schon irgendwie durchschlagen. Du und Amelie habt es damals ja auch geschafft. Sie sind ja nicht allein, sie haben ja einander und ihren… Gott Xandrax. Ob der sich ihrer jedoch erbarmen wird, wage ich zu bezweifeln. Diese Riesen hätten sonst wahrscheinlich niemals aufgehört die Zwerge zu terrorisieren…“ Er gab Zyklopus einen leichten Knuffen. „Du bist ja richtig weich geworden, seit wir das erste Mal hier waren.“
„Ja, das mag stimmen,“ erwiderte der Riese „die Zeit auf der Titanen- Insel, war ja auch wirklich schwer.“
„Sie sind nicht auf der Titanen- Insel,“ hallte die Stimme des Greifs zu ihnen herüber, „aber an einem Ort, der doch einige Herausforderungen für sie bereithält und der ihrem Entwicklungsstand mehr entspricht. Ich werde sie mal eine Weile dort lassen und dann wird sich zeigen, wie sich ihre Sichtweise verändert!“ Darauf fuhr er, an die noch versammelten Riesen gewandt, fort: „Nun ihr, die ihr jetzt noch hier seid, habt bereits eine gewisse Einsicht gezeigt. Euch obliegt es nun, die Verhandlungen mit den Zwergen wieder aufzunehmen und wehe ihr bringt ihnen nicht den nötigen Respekt entgegen, dann werde ich wiederkommen! So und jetzt, hinfort mit euch!“ Er wedelte mit seiner Vorderpranke, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen und die Riesen zogen sich mit unterwürfiger Erleichterung und leise miteinander flüsternd zurück.
Der Greif erhob sich nun wieder in die Lüfte und flog zu den Geschwistern und ihren Freunden herüber. „Wow!“ rief Benjamin, als das gewaltige Wesen wieder neben ihnen landete „das war ja mal ein Auftritt!“
„Ich musste etwas unternehmen,“ erwiderte der Erdengreif. „Ich habe all diesen Riesen ins Herz geschaut und bei jenen die ich verbannt habe, fand ich eine beängstigende Finsternis vor. Ich hoffe nur, sie kommen doch noch zur Vernunft. Gerade sieht es jedoch nicht so aus. Vor ihnen musste ich das Zwergenvolk deshalb unbedingt schützen, denn die Zwerge haben als Naturgeister eine sehr wichtige Aufgabe, besonders jetzt da so viele Umwälzungen in den Welten bevorstehen. Das wissen auch die drei Ritter und darum haben sie alles daran gesetzt, die Riesen gegen die Zwerge aufzuhetzen. Das Gift des Fahlen Ritters hat bei einigen schon so tiefe Spuren hinterlassen, dass sie für die Vernunft und den gesunden Menschenverstand nicht mehr zugänglich waren.“
„Das klingt aber sehr übel,“ meinte Zyklopus erschüttert.
„Das ist es auch,“ gab das Mischwesen nachdenklich zur Antwort.
„Der Priester hat mich aber sehr erstaunt. Er war anfangs der grösste Fanatiker und nun scheint er doch gewisse Einsichten gewonnen zu haben.“ „Ja, das hat mich auch gewundert,“ gestand der Greif ein. „Irgendetwas muss in ihm diesen Wandel ausgelöst haben.“
„Vielleicht weil Zyklopus ihm schon gehörig den Kopf gewaschen hat,“ lachte Benjamin „und ihm sozusagen das Leben rettete.“
„Also ich weiss nicht…,“ meinte der Riese verlegen. „Ich denke nicht, dass ich das bewirkt habe.“
Der Greif schaute ihn wohlwollend an. „Stell dein Licht nur nicht zu sehr unter den Scheffel, lieber Zyklopus. Du hast dich wirklich sehr positiv verändert, ich bin stolz auf dich. Ich hoffe einige der anderen Riesen, treten auch noch in deine Fussstapfen. So nun muss ich mich aber langsam wieder verabschieden. Nur eins noch!“ Er wandte sich nochmals an die Geschwister und Malek. „Ihr habt mich ja am Anfang gefragt, ob ich etwas über den Schlüssel zu Obislavs Welt wisse. Bisher habe ich euch noch keine Antwort auf diese Frage gegeben. Leider muss ich euch enttäuschen. Ich habe den besagten Schlüssel nicht und ich weiss auch nicht, wo er ist. Die Idee jedoch, dass ein Greif so ein Artefakt in seiner Obhut haben könnte, ist gar nicht so schlecht. Leider kann ich euch nicht genau sagen, wo der Luft- Greif und der Wasser- Greif sich gerade aufhalten. Vom Feuer- Greif jedoch, weiss ich zufällig den Aufenthaltsort. Vielleicht fragt ihr ihn mal, ob er euch weiterhelfen kann.“
„Das klingt gut,“ gab Malek zurück. „Wo hält sich denn dein Artgenosse zurzeit auf?“
„Soviel ich weiss, befindet er sich gerade im Reich der Trolle.“
„Im Reich der Trolle? Da waren wir nur kurz einmal, als wir Nofretes Amme Magdalena zurück nach Hause geholt haben,“ sprach Pia.
„Genau! Dort solltet ihr mit eurer Suche fortfahren.“
„Vielen Dank für den Tipp,“ erwiderte Benjamin. „Wenigstens haben wir jetzt einen weiteren Anhaltspunkt. Ich hoffe nur, unsere Suche ist erfolgreich.“ „Verliert nur niemals euer Vertrauen, auch nicht das Vertrauen in euch selbst. Ihr seid die Auserwählten! Ihr findet einen Weg.“
„Meinst du wirklich?“
„Natürlich! Zweifelt nicht immer so an euch!“
„Wir versuchen unser Bestes, aber manchmal ist es nicht einfach.“
„Niemand sagt, dass es einfach ist. Aber alle Himmelsmächte sind an eurer Seite.“
„Das stimmt, wir haben wirklich immer wieder wunderbaren Beistand erfahren,“ stimmte Pia zu. „Ohne dich z.B. hätten wir diesen Riesenkult und seinen Anhängern wohl niemals wirklich Herr werden können.“
„Und eben darum, bin ich hierhergekommen.“
„Dein Kampf gegen den Fahlen Ritter war wirklich grossartig!“
„Ja, es war ganz kurzweilig, muss ich sagen,“ erwiderte das Mischwesen mit Schalk in seinen Adleraugen.
„Kurzweilig?“ fragte Ben erstaunt. „Es hat aber ziemlich gefährlich ausgesehen.“
„Ach, so gefährlich war es nun auch wieder nicht. Ich hätte den Kampf auch schon früher beenden können.“
„Tatsächlich?“
„Ja. Aber ich wollte den Ritter möglichst stark schwächen. Leider hat das Himmelslicht diesen Feigling nicht mehr treffen können.“
„Ja leider. Jetzt müssen wir uns doch noch weiter mit ihm herumschlagen.“ „Das wäre auch der Fall gewesen, wenn ihn das göttliche Licht getroffen hätte,“ meinte der Greif nüchtern. „Allerdings wäre er dann noch mehr und länger geschwächt gewesen.“
„Aber…, wenn er jetzt wieder hierher zurückkehrt?“ fragte Pia entsetzt.
„Das wird er nicht. Er muss jetzt erst seine Wunden lecken und er wird es auch nicht mehr so schnell wagen, zurückzukehren. Seine Jünger- Gemeinschaft hat sich sowieso in alle Winde zerstreut und die Schlimmsten sind nun sicher verwahrt in der Welt, in die ich sie geschickt habe.“
„Was ist das eigentlich genau für eine Welt?“
„Eine Welt in der noch urzeitliche Kreaturen leben. Tierische wie Humanoide. Sie sind grobschlächtig und ziemlich boshaft, genau wie die Riesen, die jetzt dort sind, es waren. Sie sind jetzt sozusagen unter ihresgleichen. Dort richten sie auf jeden Fall keinen Schaden mehr an.“ „Hoffen wir mal das Beste,“ sprach Zyklopus etwas nachdenklich.
Der Greif nickte ihm zu und meinte dann:
„So, nun werde ich euch erst einmal zurück zu den Zwergen bringen. Danach muss ich weiterziehn. Doch wenn ich euch auch wieder verlasse, denkt immer daran, dass ich von nun an über euch wachen werde, denn wer einst die Freundschaft eines Greifs gewonnen hat, steht immerwährend unter seinem Schutz!“