Wolfsbrüder/ Weisheit des Feuer- Greifs
Manuel fuhr aus seinem tiefen Schlaf hoch und lauschte. Hatte er gerade Wolfsgeheul vernommen? Ja, und zwar ganz nahe beim Haus! Sogleich fühlte er sich wieder in die Situation zurückversetzt, als das Wolfsrudel sein Leben bedroht hatte und sein Herz setzte kurz ein paar Schläge aus. Die Raubtiere kamen also tatsächlich wieder zurück. Zum Glück hatte der Greif für genug Fleisch- Nachschub gesorgt, das nun im Schuppen lagerte. Der Gedanke, hinaus in die Kälte zu gehen und sich erneut dem Rudel zu stellen, machte ihm grosse Angst. Aber er musste diese Angst überwinden, sonst liessen die Wölfe ihn niemals in Ruhe. So zog er seine Stiefel und sein Jacke an und trat, bewaffnet mit einer Taschenlampe, vorsichtig hinaus in die eisigkalte Nacht.
Sogleich erkannte er wieder die huschenden Schatten der Wölfe. Sie waren tatsächlich alle gekommen und formierten sich nun halbkreisförmig vor ihm. Der Leitwolf mit der dunklen Gesichtsmaske, kam auf Manuel zu und ihre Augen begegneten sich. Sogleich vernahm er die Stimme des Tieres in seinem Kopf: „Du hast uns versprochen, dass es noch mehr Fleisch in deinem Hause gibt,“ sprach dieses. „Wir hatten noch immer keinen Erfolg bei der Jagd. Einmal hätten wir beinahe ein junges Rentier erwischt, doch es war zu schnell für uns. Wir sind alle geschwächt und uns fehlt es deshalb an Energie.“
„Das… kann ich gut verstehen,“ erwiderte Manuel, noch immer ziemlich vorsichtig. „Ich habe drüben im Schuppen jedoch einen schönen Vorrat an Fleisch. Kommt mit!“ Die Wölfe weiterhin im Auge behaltend, ging er zum Schuppen und schloss dessen Tür auf. Der Leitwolf trottet voran und die restlichen Rudelmitglieder folgten ihm, ebenfalls ziemlich vorsichtig. Man merkte, dass sie nicht sonderlich gute Erfahrungen mit Menschen gemacht hatten. Als sie dann jedoch das viele Fleisch im Schuppen erblickten, begannen ihre Augen zu leuchten. „Wie ihr seht, hat es hier mehr als genug zu fressen für euch,“ meinte Manuel an den Leitwolf gewandt. „Aber das sollte möglichst unter uns bleiben, denn ich kann nicht jeden Wolf in Sibirien verköstigen.“
„Natürlich werden wir schweigen, wie der grossen Mutter Grab,“ gab das Tier zurück. „Nicht wahr, Brüder und Schwestern!“
Zustimmendes Geheule war die Antwort.
„Also gut, dann fresst euch mal so richtig satt!“ meinte der junge Mann. „Aber teilt es gut ein!“
„Natürlich,“ erwiderte der Leitwolf. „Vielen Dank! Das werden wir dir niemals vergessen!“
„Gerne geschehen! Ich hoffe das wird unser… Zusammenleben hier in der Gegend, etwas verbessern.“
„Das wird es. Ab heute betrachten wir dich als unseren Freund und Freunde frisst man nicht.“
„Da bin ich jetzt aber echt beruhigt,“ gab der junge Mann etwas ironisch zurück. Dann kehrte er erleichtert in sein Haus zurück, während die Wölfe sich über das frische Fleisch hermachten.
Es dauerte eine Weile, bis Manuel wieder einschlief. All die Eindrücke und Erkenntnisse der vergangenen Stunden waren doch etwas viel gewesen und der Gedanke, dass er irgendwann gegen Slavzow und die anderen fehlgeleiteten Staatsmänner würde antreten müssen, gefiel ihm gar nicht. Noch immer hoffte er, das es eine andere Lösung geben würde. Ausserdem hinterfragte er seine Berufung zum Fürst den neuen Welt, denn er hatte eigentlich keinerlei Voraussetzungen dafür. Würde er dem allen jemals gerecht werden können?
Der Junge schaute nachdenklich aus dem Fenster und wie als Antwort, begannen am Himmel erneut die wundersamen Nordlichter zu pulsieren. Sie sahen aus wie bunte, hin und herwogende Nebel, die ihre Form immer wieder veränderten. Ein atemberaubendes Schauspiel!
Auf einmal spürte Manuel eine tiefe Rührung in sich. Er würde niemals allein sein, denn der Grosse Gottesgeist war stets bei ihm und behütete und leitete ihn auf seinem Wege.
„Ich danke dir,“ sprach er in die Stille hinein „und ich werde alles tun, um deinen Willen zu erfüllen!“ Mit diesen Gedanken schlief er schliesslich friedlich ein.
Am nächsten Morgen stand erneut der rotgekleidete Greifen Mann neben seinem Bett. „Nun?“ meinte er erheitert. „Gut geschlafen?“
Manuel rieb sich die verschlafenen Augen und sprach: „Ja, erstaunlich gut, dafür dass mich in der Nacht tatsächlich die Wölfe nochmals besucht haben.“
„Ich dachte mir, dass sie wiederkommen würden. Ich hoffe das Fleisch, das ich hergezaubert habe, hat sie satt gemacht.“
„Ich denke schon. Auf jeden Fall sicherte mir der Leitwolf zu, dass sie mir nicht noch einmal nach dem Leben trachten werden, weil ich nun ihr Freund sei. Und… nun ja… Freunde frisst man nicht.“
Der Greifen Mann lachte auf und rief. „Na also! Du schlägst dich doch schon ganz gut. Mal sehen, wie du dich heute bei unserem ersten Kampftraining schlägst. Los aufstehen! In zehn Minuten, warte ich draussen auf dich!“ „Nur zehn Minuten. Aber was ist mit Frühstück?“
„Darauf wirst du noch eine Weile warten müssen. Dalli, dalli! Wir haben noch eine Menge aufzuholen!“
Den ganzen Tag über, nur mit kurzen Pausen dazwischen, übten Manuel und seine Lehrmeister nun mit allen möglichen Waffen. Auch verschiedene Nahkampfarten nahmen sie näher in Augenschein. Es war interessant, aber auch unglaublich anstrengend.
Der junge Mann merkte, dass er ziemlich unbeweglich war und auch seine Ausdauer liess zu wünschen übrig. Allergings besass er, vor allem für den Schwertkampf, eine natürliche Begabung.
„Das Kämpfen mit dem Schwert gefällt mir,“ sprach er. „Es hat etwas Elegantes und doch Kraftvolles an sich.“
„Das kann ich mir gut vorstellen,“ meinte der Greifen- Mann. „Der Schwerkampf hat dich schon als Ululala immer fasziniert. Besonders in jüngeren Jahren, kämpftest du noch oft mit dem Schwert. Als deine magischen Kräfte mit der Zeit allerdings wuchsen, hast du mehr von selbigen Gebrauch gemacht. Es erschien die schonender und du wolltest immer weniger mit Waffen kämpfen.“
„Ja, ich kann mir auch ehrlich gesagt nicht vorstellen, jemanden ernsthaft mit dem Schwert zu verletzen. Dennoch gefallen mir die Abläufe der Bewegungen und die darin liegende Geschmeidigkeit. Ausserdem..., solange ich meine magischen Kräfte nicht vollends wieder entfaltet habe, wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als mit Waffen zu kämpfen.“
„Das stimmt. Es obliegt mir, dir alle dazu nötigen Techniken beizubringen.“ „Wirst du mich auch in der Magie unterweisen?“
„Nein, das wird eine meiner Schwestern übernehmen.“
„Schwestern?“ Ja. Der Luft und der Wasser- Greif sind weiblich.“ „Tatsächlich? Ich dachte, ihr seid alle männlich.“
„Das würde dem wahren Gleichgewicht im Omniversum allerdings widersprechen, denn es braucht die männliche, ebenso wie die weibliche Energie.“
„Das macht ja auch Sinn,“ gab Manuel zurück. „Es erstaunt mich nur, dass der Luft- Greif weiblich ist. Die Luft wird doch eher mit männlichen Qualitäten verbunden.“
„Das muss nicht unbedingt sein. Die Luft repräsentiert auch viele weibliche Qualitäten. Z.B. Kommunikation, Kreativität und Offenheit. Sie ist lebensspendend, beweglich und verbunden mit dem Übersinnlichen. In den Welten der Abtrennung, zu denen auch die Erde gehört, schreibt man viele Qualitäten, die etwas bewegen, etwas in Gang setzen, stets dem männlichen Prinzip zu. Das All-Eine jedoch, kennte keine solchen Abgrenzungen. Alles ist veränderlich, fluid und gleichermassen wertvoll. Darum ist der Luft- Greif weiblich und der Erden- Greif wiederum, dessen Element man in eurer Welt eher dem Weiblichen zuordnen würde, ist männlich. Auch das Männliche ist nährend, gibt Stabilität und Geborgenheit. Es ist wie die Erde, wie der Fels in der Brandung.“
„An diesen Gedanken, muss ich mich wohl noch etwas gewöhnen,“ gab Manuel zu.
„Und das ist eine deiner ersten Lektionen, mein junger Schüler! Löse dich von jeglichen festgefahrenen, kristallisierten Formen und Vorgaben! Bleibe frei im Geiste und erkenne, dass schlussendlich alles Eins ist! Es spielt eigentlich keine Rolle, welches Geschlecht wir Greifen haben. Wir können es auch jederzeit wechseln, wenn wir wollen. Doch im Augenblick haben wir diese Erscheinungsform gewählt. Das hat gute Gründe, denn bald wird sowieso alles, das du kennst, auf den Kopf gestellt werden.“