Eines Tages, erwachte Julia schon früh. Sie und ihr Ehemann hatten Quartier in einem sehr schönen Zimmer der Himmelsstadt bezogen. Dieses lag im sogenannten Menschenviertel und war speziell für die menschliche Spezies errichtet worden. Es gab auch noch andere Viertel, welche jedoch andere Spezies beherbergen würden. Julia ging hinaus auf die Terrasse, von der aus man einen wundervollen Ausblick über die Bergmassive unter ihnen und auch auf einen grossen Teil der Stadt hatte. Die Sonne ging gerade wie ein glühender Ball auf und es tummelten sich heute besonders viele der Sylphen in den Gassen und auf den grossen Plätzen der Stadt. Eine seltsame Aufregung lag in der Luft und da waren diese silbrig glänzenden Schiffe mit weissen Segeln, die sie noch nie zuvor gesehen hatten.
„Was um alles in der Welt ist da unten los!“ dachte dir Frau bei sich und lief zurück zu ihrem Gemahl. „Daniel! Daniel!“ rief sie. „Das musst du sehen. Irgendetwas Wichtiges scheint da im Gange zu sein.“
Der Angesprochene öffnete stöhnend seine Augen und blickte sie schlaftrunken an. „Was ist denn?“ fragte er etwas missmutig.
Julia packte ihn am Arm und zog ihn aus dem Bett. „Los, los! Steh schon auf!“
„Ist ja gut, ich komme schon!“ Er erhob sich etwas schwerfällig und ging mit seiner Frau nach draussen.
„Da, schau nur!“ rief diese. „So viele Sylphen habe ich noch nie zuvor gesehen. Sie sind einfach zauberhaft mit ihren wehenden Gewändern und den silbernen Haaren, fast wie Engel. Findest du nicht auch?“
„Ja, natürlich! Aber was hat es mit diesen Schiffen bloss auf sich?“
„Keine Ahnung. Darum habe ich dich ja auch geweckt. Meinst du sie sind da, um mit den Entrückungen zu beginnen?“
„Mit den Entrückungen?! Jetzt schon?“
„Ja, das könnte doch gut sein.“
„Aber… ich bin noch gar nicht richtig darauf vorbereitet, irgendwelche entrückte Menschen zu empfangen.“
„Das wird schon gehen, aber wir sollten uns etwas beeilen! Los zieh dich an!“
Kurz darauf standen die Eltern Turner frisch angekleidet und sauber frisiert draussen auf dem grossen Vorplatz. In diesem Augenblick materialisierte sich die Alte Windfrau direkt neben ihnen. „Oh, ihr seid schon bereit?“ freute sie sich. „Die ersten Entrückungen werden in Kürze beginnen. Wenn ihr wollt, könnt ihr mit mir auf dem Turm dort drüben, alles genaustens beobachten!“
Mit diesen Worten erhob sich die Windfrau in die Lüfte und schickte sich an, hinauf auf den Turm zu schweben.
Die Eltern Turner blieben etwas ratlos zurück. „Aber wir können nicht fliegen,“ sprachen sie. „Gibt es denn irgendwo eine Treppe?“
„Nein, die gibt es nicht. Ausser ihr stellt euch eine Treppe vor. Vielleicht wird dann eine erscheinen.“ Die Windfrau lächelte verschmitzt.
„Aber… so weit sind wir noch nicht!“ protestierte Daniel und Julia nickte zustimmend.
„Doch, das seid ihr. Habt einfach etwas Vertrauen. Die Luftströme um euch herum, werden sich euren Wünschen anpassen. Nicht umsonst seid ihr hier im Reich der Lüfte.“
„Aber… das kann ich kaum glauben,“ sprach wiederum Daniel. „Wir sind schlichtweg nicht dazu gemacht, um auf irgendeine Weise zu schweben. Das geht rein physikalisch gar nicht.“
„Die euch bekannten physikalischen Gesetze, sind hier jedoch nicht gültig. Das Luftreich basiert auf anderen Gesetzmässigkeiten und das Manifestieren gewisser Dinge, fällt hier leichter. Schliesslich konntet ihr euch schon eine lange Zeit hier halten. Das ginge gar nicht, wenn es nicht so wäre.“
„Aber du sagtest uns doch, dass die Wesen der Luft das eigentlich für uns möglich gemacht haben. Fliegen ist ausserdem nochmals eine andere Nummer.“
„Ach was! So gross ist er Unterschied gar nicht. Jetzt da ihr euch auf so wunderbare Weise entwickelt habt, sowieso nicht. Also gebraucht eure Vorstellungskraft und glaubt daran, dass ihr stets vom Göttlichen getragen werdet! Ausserdem bin ich hier, um euch zu helfen. Gebt mir eure Hände und dann schliesst die Augen!“
Die Turners taten, wie ihnen geheissen. „Und nun stellt euch vor eurem inneren Auge eine Treppe vor, die direkt von hier auf den Turm hinauf führt!“
Julia und Daniel taten wie ihnen geheissen. Doch es dauert eine ganze Weile, bis sie ihre Gedanken so weit beruhigt und gesammelt hatten, dass sie wirklich eine Treppe visualisieren konnten.
Die Frau schaffte es als Erstes. Sie… machte einen Schritt nach vorne und spürte auf einmal einen Treppentritt unter ihren Füssen.
Ungläubig öffnete sie ihre Augen wieder. „Ich habe es geschafft!“ rief sie „Ich habe es tatsächlich geschafft! Da ist tatsächlich eine weitere Wolkentreppe!“
„Gut gemacht!“ lobte sie die Alte Windfrau.
Daniel wirkte etwas ratlos, denn er sah keine Treppe.
„Du musst dir die Treppe genau vorstellen!“ versuchte ihn Julia anzuweisen. Sie beschrieb nun ihre Treppe und Daniel versuchte sich diese ebenfalls vorzustellen und mit Geisteskraft zu manifestieren. Und… tatsächlich! Auch ihm gelang es schliesslich!
„Sehr gut!“ freute sich die Windfrau, „dann beginnen wir jetzt mit dem Aufstieg.“
Während die drei einen Tritt nach dem anderen nahmen, meinte Julia zu dem mächtigen Windgeist: „Ich hoffe nur, die Treppe verschwinden nicht sogleich wieder.“
„Das wird sie nicht und wenn doch, dann bin immer noch ich da, die euch halten wird. Ich brauche keine Treppen, denn ich ziehe es vor einfach durch die Räume zu schweben.“
„Es muss herrlich sein, auf solche Weise zu schweben.“
„Ja, das ist es. Aber wie gesagt, ihr könntet das auch. „Nun ich weiss nicht so recht... Vielleicht lernen wir es ja… irgendwann.“
„Bestimmt. Doch das spielt jetzt keine Rolle, wir sind oben angelangt. Setzt euch da drüben auf die Wolkensessel! Sie sind sehr bequem und von hier aus können wir alles gut überblicken.“
Damit behielt die Windfrau tatsächlich recht. Tief bewegt blickten sich die Turners um. Die aufgehende Sonne färbte die Wolkenfelder goldrot ein und dieses Licht spiegelte sich auch in den Mauern und Zinnen der Himmelsstadt wider. Je heller es wurde, desto mehr unterschiedliche Farbereflexe, erschienen auf der Oberfläche der Gemäuer. Wenn man diese überhaupt so nennen konnte, da sie eine ganz andere Konsistenz besassen, als es bei irdischen Gebäuden der Fall war.
„Sind das eigentlich die Spektralfarben des Lichts, die sich auf den Oberflächen der Stadt brechen?“ fragte Daniel.
„So ist es. Es ist so ähnlich, wie bei einem Regenbogen.“
„Nehmen alle Lebewesen diese Reflexe wahr?“
„Nicht alle. Es bedarf einer gewissen Erweiterung des Geistes. Alles ist eigentlich Farbe, Licht und Bewegung. Eine Blume, die z.B. bei euch auf der Erde weiss erscheint, wird von einem Schmetterling bunt wahrgenommen. Ihr werdet jetzt immer mehr, wie die Schmetterlinge werden, weil sich euch nun täglich mehr offenbaren wird. Doch jetzt erst einmal fertig philosophiert! Bald werden die Himmelsschiffe ablegen. Einige der ersten, die vermutlich hergebracht werden sind ein Konvent von tibetischen Mönchen. Ihr seht die Bergwelt unter uns. Das ist der Himalaya.“
„Tatsächlich?“ Julia und Daniel schauten tief beeindruckt auf die besagte Landschaft hinab. „Und du meintest also, einige Tibeter werden schon bald hergebracht?“
„Ja, es sind Mönche, die in einem Kloster leben, das hoch im Gebirge des tibetischen Himalaya liegt. Durch ihre Lebensweise und die Hingabe an die Ewige Ordnung, wurden sie dazu auserwählt, entrückt zu werden. Es gibt aber auch noch viele andere Menschen, die herkommen werden. Sie stammen aus allen Kulturen, Religionen und Rassen. Das, was sie vereint, ist ihre fortgeschrittene Denkweise.“
„Und wir haben nun also den Auftrag diese Menschen zu empfangen und zu betreuen?“
„Ja, so ist es vorgesehen.“
„Aber… wir können uns mit vielen von ihnen vermutlich gar nicht verständigen. Wir sprechen nicht so viele Sprachen.“
„Das braucht es hier auch nicht mehr. Hier wird nur in der universalen Sprache der Liebe gesprochen.“
„Und, das klappt auch wirklich?“
Die Windfrau lächelte erneut und meinte: „Ich werdet es schon bald sehen. Schaut, jetzt fliegen die Schiffe los!“
Wie weiss- silberne Vögel erhoben sich nun alle Himmelsschiffe in die Lüfte und glitten in die unterschiedlichsten Richtungen davon.
Eines von ihnen setzte schon bald wieder zum Sinkflug an. Vermutlich war das jenes, das die Mönche abholen sollte. Julia und Daniel liefen ganz nahe an die Fensterbrüstung heran und reckten ihre Hälse. „Ich sehe es!“ rief die Frau. „Es verschwindet gerade zwischen einigen hohen Felswänden. Ist das tibetische Kloster weit entfernt?“
„Nein, nicht sehr weit,“ erwiderte die Windfrau. „Aber ein Bisschen Zeit haben wir schon noch. Geniesst die Ruhe, damit wird es nämlich schon bald vorbei sein!“