Malek und der Greif zogen währenddessen ihre Kreise über den Gebirgszügen der Kristallberge. Sie erkundeten alles bis in den kleinsten Winkel. Doch das besagte Tal, worin ihre Freunde vermutlich gefangen gehalten wurden, tauchte nirgends auf. Obwohl sie sicher waren, dass sie an der richtigen Stelle suchten. Der Greif versuchte mit seinen magische begabten Adleraugen angestrengt, mögliche Illusionen zu durchdringen, die das Tal möglicherweise vor ihnen verbargen. Malek wusste, dass die bösen Ritter absolut in der Lage waren, so eine Illusion zu erzeugen. Das war damals im Reich der Zwerge ebenfalls so gewesen. Damals war der schwarze Tempel, in dem die Riesen dem vermeintlichen Gott Xandrax gehuldigt hatten und der sich dann als Fahler Ritter herausstellte, auf dieselbe Weise getarnt gewesen.
„Da drüben muss irgendetwas sein,“ vernahm er auf einmal die Stimme des Greifs. „Ich spürte eine starke, magische Macht in der Nähe. Lass uns dort auf jener Felsnase landen! Ich will mir das genauer ansehen!“
Malek bejahte und sie setzten zum Sinkflug an. Die Schwingen des Greifs machten dabei kaum ein Geräusch. Malek konzentrierte sich nun ebenfalls und auch er glaubte auf einmal eine verborgene Magie zu erkennen. „Ich spüre es auch,“ sprach er leise. „Es muss gleich da unten sein. Vielleicht ist es ähnlich wie damals beim Xandrax Tempel. Dieser befand sich in einer tiefen, unzugänglich scheinenden Schlucht. Als wir jedoch in die Schlucht hinabstiegen, erschienen der Tempel und der Zugang dazu auf einmal. Vielleicht sollten wir einfach versuchen da runterzufliegen, dann hebt sich die Illusion vielleicht auf.“
„Ich weiss nicht so recht,“ gab der Greif zu bedenken. „Ich habe das Gefühl, dass dieser Zauber hier, sehr komplex ist, vermutlich komplexer als damals der Zauber, der über dem Tempel lag. Es scheint mir wie eine Art Kuppel oder Netz zu sein, das nur sehr schwer zu durchdringen ist. Ansonsten hätten es die Sonnenfeen sicher geschafft, denn ihre Kräfte sind aussergewöhnlich.“
„Etwa aussergewöhnlicher als deine?“ fragte Malek und hoffte damit den Greifen etwas aus der Reserve zu locken.
Dieser sprach leicht verärgert: „Natürlich nicht! Zudem kann man die Sonnenmagie und meine Magie sowieso nicht miteinander vergleichen. Das ist ja, als würde man Granatäpfel mit Birnen vergleichen! Meine Magie ist weitaus vielfältiger und komplexer. Ich kann diese Illusion auch durchbrechen, brauche aber genug Zeit dafür. Ich muss mir jeden Strang, aus welchem dieser anspruchsvolle Zauber gewebt wurde, einzeln vornehmen und ihn zu unseren Gunsten verändern.“
„Ich weiss nur nicht, ob Pia, Benjamin und Lumniuz noch so viel Zeit haben,“ gab der Magier zu bedenken. „Leider wird uns wohl nichts anderes übrigbleiben.“
„Also gut, dann hoffen wir einfach mal, dass die anderen erfolgreich dabei sind, das verborgene Tal über den Nordeingang zu erreichen.“
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Mungoluz, Morcheluz und die anderen Gnome setzten ihren Weg, ohne grössere Pausen, stetig fort. Eine Weile gingen sie noch einen etwas breiteren Höhenpfad entlang. Von hier aus hatte sie einen eindrucksvollen Blick über das weite Land unter sich.
„Es dauert nicht mehr lange und wir haben den Nordzugang erreicht,“ sprach Mungoluz. „Jetzt müssen wir sehr leise und vorsichtig sein.“ Sogleich als er das sagte, verstummten alle Geräusche. Man hörte nicht einmal mehr das Klirren der Waffen. Langsam, ganz langsam bewegten sie sich vorwärts.
Schliesslich bogen sie um eine Kurve, die von einem Felsüberhang beschattet wurde.
Mungoluz hob seine Hand und bedeutete seinen Leuten damit anzuhalten. Vor ihnen lag eine, grob in den Felsen gehauene Treppe, die hinauf zu einem dunklen Höhleneingang führte…, und dort standen tatsächlich vier Wachleute aus dem Nordreich!
Mungoluz machte einige Gesten mit seinen Händen und mehrere Gnome seiner Truppe, schwärmten jetzt nach allen Seiten aus. Morcheluz beobachtete fasziniert wie seine Artgenossen sich über die umliegenden Felsen, immer näher an die Wachleute heranschlichen. Diese schienen sie nicht kommen zu sehen, auch da sie durch den Tarnzauber des Greifs, beinahe unsichtbar waren. Dann ging alles blitzschnell! Mungoluz‘ Männer warfen sich auf die Wachen und schlugen diese mit der Rückseite ihrer Kampfäxte oder mit ihren Streitkolben nieder. Nachdem sie die Umgebung gesichert und die Wachen gefesselt und geknebelt hatten, gaben sie Morcheluz und den anderen das Zeichen, dass die Luft rein war.
Der Rest der Gnomen-Truppe folgte nun ihren Kameraden und kurz darauf standen alle vor dem Höhleneingang.
Eine weitere, allerdings viel steilere Treppe, führte in die Finsternis hinab. Zum Glück konnten die Erdgnome auch in der Dunkelheit noch immer einigermassen sehen, deshalb verzichteten sie diesmal auf Fackeln. Das war auch besser so, denn dadurch bestand weniger die Gefahr zu schnell entdeckt zu werden.
Die Treppe schien endlos. Doch dann endlich strömte ihnen ein Lichtschimmer von unten entgegen. Kurz darauf standen sie in einer Grotte, die mit einigen blassen Öllampen erhellt wurde. Von dieser Grotte aus, zweigten mehrere Gänge ab. „Wir sind jetzt im Nordviertel!“ flüsterte Mungoluz.
„Kennt ihr euch hier denn noch aus?“ fragte Morcheluz etwas besorgt. „Ja, wie gesagt, ich kenne fast jeden Winkel des Erdreiches. Ich würde sagen, wir nehmen die recht Abzweigung.“
„Seid ihr sicher?“
„Ja, wenn sich nicht alles völlig verändert hat oder durch Magie verborgen wurde, dann schon.“
„Meint ihr, es würde Sinn machen, wenn wir uns aufteilen, um auch noch in den anderen Richtungen zu suchen?“
„Nein, wir sollten besser zusammenbleiben, falls es doch noch zu einem Kampf kommt.“
So setzten die Gnomen zusammen ihren Weg fort. Erstaunlicherweise trafen sie auf dem ersten Abschnitt des Nordreiches, kaum jemanden an. Dann jedoch, vernahmen sie auf einmal mehrere Stimmen!
Mungoluz hielt, durch eine Handbewegung, seine Truppe erneut zu äusserster Vorsicht an.
Langsam und sich von Deckung zu Deckung schleichend, näherten sie sich den Stimmen.
Hinter einigen Felsen kauernd, erkannten sie mehrere schwarzgekleideter Gnome in Kapuzenmänteln, welche am Boden knieten und zu einer eindrucksvollen Gestalt emporblickten.
Es handelte sich bei dieser Gestalt um eine schöne, braungekleidete Dame, mit langen, braunen Haaren und rehbraunen Augen. Mungoluz und seine Anhänger glaubten ihren Augen nicht zu trauen. Die Dame sah genau so aus wie die Grosse Erdmutter!