Die zwei kommenden Tage, kehrte der Feuergreifen- Mann immer wieder zurück und unterwies Manuel in den unterschiedlichsten Kampfkünsten. Am Ende des zweiten Tages, sassen der Junge und sein Mentor noch etwas in der Hütte zusammen. Im Kamin prasselte ein gemütliches Feuer und die beiden assen ein bescheidenes Abendmahl.
Manuel war völlig erledigt und liess sich nach dem Essen mit einem wohligen Seufzer in den gemütlichen Polstersessel fallen. Alles tat ihm weh und er war todmüde.
„Bei allen Geistern!“ stöhnte er. „So erschöpft war ich noch nie in meinem Leben!“
Der Greifen Mann musterte ihn etwas spöttisch und meinte: „Du bist tatsächlich noch nicht so wirklich in Form, auch wenn du dich bei unseren Kampflektionen schon ganz geschickt angestellt hast. Allerdings wirst du noch etwas mehr Training brauchen. Vor allem Fitness- und etwas Krafttraining, damit deine Ausdauer besser wird. Die Feinde, denen du entgegentreten wirst, werden dir keine Schwächen verzeihen, anders als ich.“
„Nun ja,“ musste der 20- jährige zugeben. „Damit hast du wohl leider recht. Ich fühle mich noch nicht so wirklich fit.“
„Ich denke allerdings, darum wird sich mein goldener Bruder der
Erden- Greif kümmern müssen.“
„Du lässt mich also im Stich?“ fragte Manuel etwas bekümmert, denn er hatte sich an die Gegenwart des Feuergreifs gewöhnt und mittlerweile war eine schöne Freundschaft zwischen ihnen entstanden.
Der Angesprochene erwiderte: „Nein, natürlich lasse ich dich nicht im Stich! Ich werde schon bald wiederkommen. Es gibt noch vieles zu lernen.“
„Aber kannst du mein Fitnesstraining nicht ebenfalls übernehmen?“
„Nein, ich bin für den Kampf zuständig. Der Erden- Greif ist am besten darin, jemanden in Hochform zu bringen.“
„Na gut, wenn du meinst…“
„Du wirst meinen Bruder mögen, da bin ich mir sicher.“
„Wir werden sehen. Ich glaube, jetzt muss ich aber erst einmal schlafen gehen. Mir fallen ständig die Augen zu.“
„Das halte ich für eine kluge Entscheidung, denn ziemlich sicher wirst du Morgen wieder früh aufstehen müssen. Ich werde dich jetzt für einige Zeit verlassen. Ich wünsche dir viel Glück bei deinem weiteren Training!“
Mit diesen Worten war der rotgekleidete Greifen- Mann erneut verschwunden.
Manuel wollte sich am liebsten gleich mit seinen Kleidern in Bett werfen, doch da stellte er fest, dass das Holz, das er für das Heizen der Hütte brauchte, kaum mehr bis zum nächsten Morgen reichte. Es konnte hier in Sibirien oft unerwartet zu einem Wetterumschwung kommen und darum musste Manuel sich wohl oder übel nochmals aufraffen, um draussen etwas Holz zu holen. Er griff mit einem tiefen Seufzer nach einem Jutesack und machte sich dann auf zum Schuppen. Dort packte er so viel Holz wie möglich zusammen.
Als er sich jedoch wieder umdrehen wollte, um ins Haus zurückzukehren, erschrak er. Der Leitwolf, den er mittlerweile Simao nannte, stand vor ihm. „Ach du meine Güte, du hast mich erschreckt!“ sprach Manuel.
„Tut mir leid,“ hörte er sogleich die Stimme des Wolfes in seinem Inneren. „Ich wollte dich einfach mal besuchen und nach dir sehen.“
„Das ist… sehr nett von dir,“ gab der 20- jährige zur Antwort. „Hast du… Hunger?“
„Nein, eigentlich nicht. Dank dir geht es mir und meinem Rudel schon viel besser. Gestern haben wir sogar wieder einmal ein Rentier erlegt.“
„Das… freut mich…für euch.“
„Du hat Mitleid mit dem Rentier, habe ich recht?“
Manuel, der ziemlich erstaunt war, dass Simao scheinbar seine Gefühle so deutlich erkannt hatte, erwiderte: „Nun ja, mir tun alle Lebewesen leid, die auf so traurige Weise den Tod finden, auch wenn ich natürlich verstehe, dass ihr auch fressen müsst. Ihr seid nun mal Raubtiere und braucht Fleisch.“
„Ja, so ist das wohl,“ meinte der Wolf und es kam dem Jungen vor, als wäre er dabei etwas nachdenklich geworden. Dann sprach Simao ein paar erstaunliche Worte: „Mir hat das Rentier diesmal tatsächlich auch etwas leidgetan. Eigentlich haben wir es nicht wirklich wegen des Hungers gejagt, sondern weil wir einfach nicht immer auf das Fleisch in deinem Schuppen angewiesen sein möchten. Andererseits war es gerade das Fleisch, welches wir von dir bekamen, das uns eine so glückliche Jagd überhaupt ermöglicht hat. Es ist… irgendwie paradox.“
„Ich hätte nicht gedacht, dass Wölfe sich solche Gedanken machen,“ erwiderte der Junge erstaunt.
„Vermutlich ist das für Raubtiere wie uns auch nicht üblich. Mein Rudel macht sich solche Gedanken wahrscheinlich nie.“
„Und gerade das, macht dich zu etwas ganz Besonderem. Der Greif sagte mir sogar, dass du etwas Besonderes bist.“
„Tatsächlich?“ Der Wolf wirkte erstaunt. „Eigentlich habe ich nicht das Gefühl, dass ich so etwas Besonderes bin.“
„Doch das bist du. Welcher Wolf hätte schon Mitleid mit seinem Beutetier? Das deutet auf eine einzigartige Bewusstseinsentwicklung hin.“
„Ich weiss nicht… wovon du redest.“ Simao liess sich nun auf seinen Bauch nieder und musterte Manuel mit einem unsicheren Blick.
„Ist ja eigentlich auch egal,“ meinte der Junge. „Auch ich verstehe noch vieles nicht. Die Umwälzungen in den Welten, scheinen auf jeden Fall einige interessante Entwicklungen mit sich zu bringen. Vielleicht müsst ihr Wölfe ja schon bald nicht einmal mehr jagen.“
Die Augen des Tieres leuchteten auf. „Meinst du wirklich?“
„Ja, es könnte gut sein.“
„Das wäre natürlich wunderbar! Du musst wissen… jagen ist immer so anstrengend, besonders im Winter. Vielleicht werde ich auch langsam alt. Ich sollte wohl einem meiner Söhne meinen Platz überlassen. Einem der die Jagd liebt und der noch vollkommen im Zenit seiner Lebenskraft steht.“
„Ich glaube nicht, dass du schon so alt bist,“ meinte Manuel. „Weisst du denn wann du geboren wurdest?“
Der Wolf dachte einen Moment lang nach, dann sprach er: „Ich denke… es sind ungefähr sieben Winter her. Dieser hier ist der Achte und ich finde er ist einer der Härtesten, den wir jemals erlebt haben.“
„Das tut mir leid.“
„Dir muss das bestimmt nicht leidtun, denn du warst es, der unser Überleben gesichert hat. Nun da wir jedoch das Rentier erlegt haben, werden wir nicht mehr so sehr auf dich angewiesen sein. Trotzdem schätze ich deine Gesellschaft.“
„Wirklich? Ich dachte Wölfe trauen den Menschen nicht.“
„Bei dir ist es etwas anderes. Aus irgendeinem Grund vertraue ich dir mehr als anderen. Immerhin beherrschst du sogar unsere Sprache.“
„Das freut mich natürlich. Auch wenn ich mich dabei frage, ob ich diese Ehre nur erfahre, weil ich euch zu fressen gegeben habe.“
„Nein! Es ist nicht nur das. Schon von Anbeginn bemerkte ich, dass du etwas Besonderes bist. Das war noch, bevor du sagtest, dass du der Fürst der neuen Welt werden würdest.“
„Das hat aber einen anderen Eindruck gemacht, als wir uns das erste Mal begegnet sind.“
„Weil ich auch an mein Rudel denken musste. Doch wäre es nur nach mir gegangen… ich hätte es wohl nicht über mich gebracht, dich zu töten.“
Der junge Mann konnte kaum glauben, was er da hörte, und er musterte Simao prüfend. Dessen tiefgründige, gelbleuchtende Augen, schauten ihn jedoch voller Aufrichtigkeit an und er musste ihm einfach glauben.
„Du kannst mir wirklich glauben,“ bestätigte das Tier seine Gedanken. „Ich erkannte sogleich, dass ein wahrer Fürst in dir schlummert. Deine leuchtende Aura hat es mir verraten.“
„Du hast meine Aura gesehen?“
„So ist es! Wir Wölfe haben von Grund auf eine Affinität zum Übersinnlichen. Allerdings entwickeln wir unsere Fähigkeiten mit dem Alter stets weiter.“
„Das klingt sehr spannend. Willst du nicht noch mit in meine Hütte kommen, dann können wir uns noch etwas weiter darüber unterhalten.“ Manuel machte eine einladende Handbewegung in Richtung seiner Behausung. Doch wieder flackerte Unsicherheit in Simaos Augen auf und er sprach: „Nein… ich denke, das ist keine gute Idee.“
„Warum nicht?“
„Weil wir, trotz der Verbindung, die ich zu dir spüre, doch sehr unterschiedlich sind.“
„Aber das muss nicht sein. Eigentlich sind wir doch alle gleich.“
„Das stimmt nicht. Ich bin und bleibe ein freier, wilder Wolf! Ausserdem…, was würde auch mein Rudel von mir denken, wenn ich mich einfach vom erstbesten Menschen, der mir über den Weg läuft, domestizieren liesse.“ „Aber… so war das doch nicht gemeint!“ wehrte Manuel ab. „Ich dachte nur…, weil wir jetzt Freunde sind.“
„Das sind wir auch, aber deshalb komme ich noch lange nicht mit dir in diese hölzerne Kiste mit ihren engen Wänden.“
Der Wolf schien nun beinahe etwas gekränkt zu sein.
„Tut mir leid. Es war eine blöde Idee. Du kannst natürlich machen, was du willst. War nur ein gutgemeinter Vorschlag, weil es heute Nacht so kalt und ungemütlich ist.“
„Ich gehöre aber an die Seite meines Rudels und die Kälte sind wir uns gewohnt.“
Das Tier wandte sich nun um und schickte sich an, zu gehen. „Wirst du… wiederkommen?“ fragte der Junge mit einem flehenden Unterton in der Stimme.
Simao drehte sich nochmals um und seine leuchtenden Augen begegneten Manuels. Dann sprach er: „Ja, ich werde wiederkommen. Ich weiss aber noch nicht genau wann.“
„Schon gut, lass dir Zeit.“
Das Tier nickte kurz und trabte dann davon. Kurz darauf verschwand es in der Finsternis und Manuel spürte auf einmal wieder eine überwältigende Einsamkeit in sich aufsteigen.