Der tote Wald
„Der letzte Bote ist gerade zurückgekehrt!“ rief Tartaloz und lief zu Hungoloz und den Geschwistern. „Wir haben fünf Stämme, die ganz sicher an unserer Seite stehen werden. Andere fünf sind bereits zu Darkuloz übergelaufen und zwei sind noch unentschlossen. Auf sie können wir nicht zählen.“
Hungoloz nickte und sprach: „Fünf Stämme sind immerhin besser als nichts. Sie müssen sich bereithalten, falls unsere Verhandlungen mit Darkuloz scheitern sollten.“
Tartaloz nickte und rief einige Männer zusammen, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen.
„Dann sollten wir uns wohl mal auf den Weg machen,“ meinte der junge Elfenfürst. „Malek, du bleibst, wie abgemacht, hier bei Tartaloz und den anderen und kümmerst dich um das Dorf und die Koordination zwischen den befreundeten Stämmen! Sollten wir innerhalb von zwei Tagen nicht zurückkehren, dann beordere die Verstärkung, direkt zum Lager von Darkuloz. Wir wissen ja jetzt, dank der fliegenden Boten, wo sich dieses genau befindet.“
Malek nickte und sprach: „Ihr könnt auf mich zählen. Viel Glück!“
„Dir auch!“ meinten die Geschwister und umarmten den Magier zum Abschied. Hungoloz klopfte Malek auf die Schultern. „Wir schon schiefgehen,“ sprach er und kurz streifte sein goldener Blick Pia, die sich nun zu ihm und Benjamin gesellt hatte. Eine leise Wehmut und Verletztheit lag in diesem Blick und die Frau fühlte sich erneut schuldig. Sie schob diese Gefühle jedoch von sich und richtete ihre Aufmerksamkeit ganz auf das, was ihnen nun bevorstand.
Das gut befestigte Tor der Holzpalisade, wurde einen Spalt weit geöffnet und die drei Freunde schlüpften hinaus. Hungoloz gab den Elfen, die das Tor geöffnet hatten, ein Zeichen und diese schlossen es sogleich wieder.
Einen Moment lang sahen sich die drei ernst an. „Ab hier sind wir nun also auf uns allein gestellt,“ sprach Hungoloz. „Mögen die Geister des Waldes an unserer Seite sein!“
Die Geschwister nickten und dann folgten sie ihrem Elfenfreund durch den viel zu stillen Wald.
Ein Geruch von Fäulnis und Tod lag in der Luft, als sie so dahingingen. Es kam den dreien vor, als würden sie durch einen Friedhof wandern. Die abgestorbenen Bäume reckten ihre kahlen Äste, wie mahnende Zeugen der anbrechenden Verderbnis, in die schwüle Luft hinauf.
Einmal mehr dachte Pia voller Wehmut an die Zeiten zurück, als der Wald noch gesund gewesen war und vor Leben und Vitalität gestrotzt hatte. So viele der Bäume, an denen sie nun jedoch vorbeigingen, waren bereits nicht mehr zu retten. Und es gab so viele Kranke unter ihnen, dass es für sie und Benjamin unmöglich sein würde, sie alle zu heilen.
„Wenn wir das Problem mit Darkuloz gelöst haben, dann werden wir uns, in einer grossangelegten Aktion, der Heilung unserer pflanzlichen Freunde widmen,“ versprach Pia sich selbst und etwas Zuversicht zog dabei in ihr bekümmertes Herz ein.
Die Stimmung war dennoch sehr bedrückend und eine ganze Weile, sprachen die drei Freunde kein Wort miteinander. Als würden sie befürchten, sich als respektlos, all den Tragödien gegenüber zu erweisen, die sich hier vor ihren Augen abspielten.
Schliesslich meinte Benjamin leise an Hungoloz gewandt: „Meinst du, Darkuloz‘ Schergen haben uns bereits entdeckt?“
„Das ist gut möglich, aber bisher ist mir nichts aufgefallen. Wenn, dann stellen sie sich jedenfalls sehr geschickt an.“
Pia blickte sich unbehaglich um. Tatsächlich war nirgends auch nur irgendein Anzeichen von Leben auszumachen und je mehr sie nach Westen kamen, umso schlimmer wurde auch der Zustand des Waldes. Den Freunden schmerzte das Herz, bei diesem traurigen Anblick.
Hungoloz' Augen brannten, am liebsten hätte er laut losgeweint, so sehr erschütterte ihn das Leiden all dieser stattlichen Baumgeschwister. Doch er durfte jetzt keine Schwäche zeigen. Er musste…
Auf einmal erklang lautes Geschrei und eine Schar, finster dreinblickender Waldelfen, fielen von allen Seiten über sie her. Sie trugen dunkle Kriegsbemalung und in ihren Händen Schwerter, Bogen und einige andere Waffen.
Unbarmherzig kreisten sie die drei Freunde ein und liessen ihnen so keinerlei Möglichkeit zur Flucht.
Hungoloz welcher noch immer den kostbaren Umhang aus Blättern trug, der einst Markuloz gehört hatte, blieb jedoch ruhig und blickte den finsteren Schergen, mit hochaufgerichtetem Haupt, entgegen. Seine Selbstsicherheit und Würde, schienen die feindlichen Elfen etwas zu verunsichern und sie hielten inne, ihre Waffen jedoch noch immer auf die Freunde gerichtet. Ein grosser, erstaunlich stämmiger Elf, mit dunklem, kurzgeschnittenen Haar, löste sich aus dem Kreis der anderen und trat, mit drohender Miene, näher an Hungoloz heran. „Wer seid ihr! Was wollt ihr hier?“
Ruhig erwiderte Hungoloz den Blick des finsteren Elfen und Pia staunte über die Kraft und die Präsenz, die er dabei ausstrahlte.
„Mein Name ist Hungoloz, Enkelsohn von Markuloz, dem König des Waldes.“ „König des Waldes!?“ rief der kräftige, dunkelhaarige Elf und wirkte dabei wie ein Dobermann, welcher im nächsten Moment zubeissen würde. „Es gibt keinen König, ausser Darkuloz!“
Hungoloz versuchte den aufkeimenden Zorn in sich zu unterdrücken und sprach kühl: „Genau zu Darkuloz wollte ich. Ich möchte gerne mit ihm verhandeln.“
„Verhandeln?“ Der elfische Dobermann lachte auf und blickte sich zu seinen Kameraden um, die nun ebenfalls hämisch grinsten.
„Ja. Es wäre sehr freundlich, wenn ihr uns zu ihm bringen würdet.“
„Freundlich?!“ wieder lachte der Dunkelhaarige auf. „Sind wir freundlich, Kameraden?“ Gemischte Rufe der Zustimmung und Ablehnung, erklangen in den Reihen der finsteren Elfen. Pia sah, wie es in Hungoloz kochte, doch er beherrschte sich meisterlich und erwiderte gefasst: „Der Kodex der Elfengemeinschaft schreibt vor, dass ein jeder, in einem Streitfall, mit der Gegenpartei verhandeln darf.“
„Kodex der Elfengemeinschaft?“ spottete der Dobermann. „Ach tatsächlich? Und wer hat diesen Kodex vefasst, etwa dein verblichener Grossvater?“
„Die 12 Elfensippen, haben diesen Kodex einst gemeinsam erarbeitet. Auch ihr gehört zu unserem Volk, ebenso wie Darkuloz. Darum seid ihr ebenfalls daran gebunden. Also bitte, bringt uns zu ihm. Wir haben ihm ein Angebot zu unterbreiten.“
„Ein Angebot? Tatsächlich?“ Das Interesse des dunkelhaarigen Elfen schien geweckt.
„Ja. Ich habe die Grossen Führer bei mir.“ Er deutete auf Pia und Benjamin. „Sie sind da, um dem Wald und allen Mitgliedern unseres Volkes zu helfen.“ Der feindliche Elf dachte einen kurzen Moment lang nach, dann sprach er: „Also gut. Wir werden euch zu Darkuloz bringen. Dann kann er selbst entscheiden, was er mit euch machen will.“
Er brüllte einige Befehle und den Freunden wurden die Hände gefesselt und die Augen verbunden. Dann stiessen Darkuloz‘ Schergen die drei Freunde grob vor sich her. Weiter hinein in den toten, westlichen Wald.