Manuel sprang sogleich auf und merkte, wie hungrig er war. Doch er wagte es diesmal nicht, sich deswegen zu beklagen, da es bereits Mittag war. Er wollte bei der Wassergreifen- Frau irgendwie keinen schlechten Eindruck hinterlassen.
Seine neue Lehrmeisterin musterte ihn jedoch wissend und meinte dann: „Wenn du willst, können wir uns, bevor wir beginnen, auch noch ein paar Sandwiches machen. Allzu viel solltest du jedoch vorerst nicht zu dir nehmen, denn wir werden heute häufig meditieren und da sollte dein Magen nicht zu sehr mit Verdauen beschäftig sein. Es ist jedoch wichtig, dass du immer genug trinkst. Das hilft dir dabei in den Flow zu kommen und auch darin zu bleiben.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Flow_(Psychologie)
Der Junge schaute die eindrucksvolle Greifen- Dame erstaunt an, doch dann wurde ihm bewusst, dass auch sie vermutlich problemlos seine Gedanken lesen konnte. Irgendwie war ihm das auf einmal peinlich.“
„Dir muss gar nichts peinlich sein,“ beschwichtigte ihn die Dame verständnisvoll und meinte dann schmunzelnd: „In den nächsten Tagen wird Seelenstriptease, in jeglicher Hinsicht, sowieso unser täglich Brot sein. Es ist meine Aufgabe, mit dir zusammen, alle noch verborgenen Blockaden und Schatten anzuschauen und aufzuarbeiten. Du kannst mir dabei vollends vertrauen.“
Mit diesen Worten holte die Greifen- Frau einige Zutaten aus dem Schrank und begann in aller Seelenruhe damit, einige Brote vorzubereiten. Manuel gesellte sich etwa scheu zu ihr und half ihr dabei.
Seine neue Lehrmeisterin war ganz anders als ihre männlichen Brüder, viel offener und herzlicher. Irgendwie erinnerte er sie etwas an seine Mutter.
„Deine Mutter fehlt dir sehr, nicht wahr?“ fragte die Greifen- Lady aus dem Nichts heraus.
„Ja, das kann man wohl sagen. Auch mein Vater fehlt mir schrecklich.“
„Das kann ich gut verstehen. Hast du das Trauma ihres Verlustes denn jemals richtig aufgearbeitet?“
Die Frage erstaunte Manuel und er dachte einen Moment lang nach. „Nein, eigentlich nicht,“ gab er zu.
„Das war eine grosses Versäumnis. Dieser Sache, werden wir uns zuerst annehmen.“
Die Brote waren nun fertig und die Greifen Frau machte einen erstaunlichen Vorschlag: „Setzen wir uns doch etwas hin und reden wir mal ein Bisschen.“
„Einfach nur reden?“
„Ja genau.“
Manuel fand das erneut ziemlich ungewöhnlich, denn sonst hatten die Greifen immer irgendetwas von ihm verlangt. Einfach nur mit ihm geredet, hatten sie selten und dann eher irgendwelchen Smalltalk.
„Wie geht es dir momentan?“ fragte die Frau und reichte ihm ein Brot und etwas Tee, den sie ebenfalls zubereitet hatte.
„Der Junge nahm das Sandwich und die Teetasse entgegen und erwiderte: „Nun, es geht mir schon einiges besser als am Anfang, als ihr hier war. Ich habe jetzt auch zwei neue Freunde, wie du siehst.“ Mit diesen Worten deutete er auf die beiden Wölfe, die vor dem Kamin auf einer Decke lagen und ihn und seine Besucherin, ab und zu, prüfend musterten.
„Die beiden passen auf dich auf,“ meinte die Frau und lächelte sanft, „und sie helfen dir dabei, zu dir selbst zu finden.“
„Meinst du?“
„Natürlich. Ist dir das denn nicht bewusst? Es gibt einen guten Grund, warum sie sich gerade in dieser Lebensphase zu dir gesellt haben.“ „Darüber habe ich noch gar nie wirklich nachgedacht. Sie tun mir einfach gut und… sie haben sich für ein Leben an meiner Seite entschieden, obwohl sie dafür ihr Rudel verlassen mussten.“
„Weil sie gespürt haben, dass du sie gerade mehr brauchst als ihr Rudel.“ „Manchmal habe ich deswegen allerdings ein etwas schlechtes Gewissen.“ „Wie dir bereits mein roter Bruder sagte, musst du das nicht haben. Es hat alles seine Richtigkeit, so wie es ist. Die Wölfe sind da, um dir dabei zu helfen, in deine ganz ureigene Kraft zu finden. Denn du bist noch nicht vollends in dieser Kraft, habe ich recht?“
Manuel überlegte angestrengt und nahm gedankenverloren einen Bissen von seinem Sandwich. Dann erwiderte er: „Ich… kann es nicht wirklich sagen. Auch wenn ich denke, dass ich, dank deiner beiden Brüder, bereits einiges mehr in diese Kraft gefunden habe. Ich habe sehr viel gelernt und bin auch körperlich fitter als jemals zuvor.“
„Dein Körper und dein Geist, wurden mit Hilfe meiner Brüder, zweifellos sehr gestählt. Doch noch hinkt deine Seele hinterher.“
„Meinst du wirklich?“
„Am Ende musst du dir diese Frage selbst beantworten. Darum prüfe stets was ich dir sage und lass es durch den Filter von Herz und Verstand laufen.“
„Manuel versuchte die Anweisungen zu befolgen und schliesslich meinte er: „Ja, ich denke schon es ist so, wie du sagst. Manchmal fühle ich mich fast etwas von alledem überfordert.
Früher war noch alles leichter. Dann starben meine Eltern und… alles passierte so schnell. Ich… blieb bei Benjamin und Pia und kurz darauf, reisten wir zusammen ins Märchenreich. Dann ging alles Schlag auf Schlag und… ich konnte die neuen Erkenntnisse gar nie richtig verarbeiten. Besonders als ich erkannte, dass ich einst Ululala war.“
„Das ist absolut verständlich,“ meinte die Greifen- Frau. „Darum werden du und ich uns jetzt erst einmal intensiv der Trauerarbeit widmen. Ich bin mir nämlich sicher, dass du den Tod deiner Eltern noch immer nicht verarbeitet hast. Wann hättest du das auch tun sollen? Es blieb dir keine Zeit und dann auf einmal… hast du dich hier an diesem unwirtlichen Ort wiedergefunden. Das ist für einen menschlichen Geist bzw. eine menschliche Seele schwer zu verarbeiten.“
Manuel blickte seine neue Lehrmeisterin tief bewegt an. Ja, sie hatte wirklich recht mit dem, was sie sagte. Bisher hatte er nie Zeit gefunden, sich wirklich mit dem Verlust seiner Eltern und all den neuen, unglaublichen Erkenntnissen über seine Existenz auseinanderzusetzen. War dies nun endlich die Gelegenheit?
„Es ist eine Gelegenheit,“ gab ihm die Greifen- Frau zur Antwort. „Nun bleibt nur die Frage, ob du bereit bist, dich diesen Dingen auch wahrlich zu stellen. Besonders was die Trauer betrifft.“
Manuel schwieg eine Weile und wägte alles genauestens ab, dann meinte er: „Ja, ich bin bereit mich all diesen Dingen endlich zu stellen, denn ich glaube, dass mich das in meinem Wachstum unterstützen kann.“
Seine Mentorin nickte wohlwollend: „Dann soll es so sein!“