Der Ritt auf dem gewaltigen Wesen war sehr eindrücklich und schon bald hatten die Eheleute Turner, ihre ersten Ängste überwunden und schauten sich begeistert um. Schnell entschwanden nun die heimatlichen Gefilde ihren Blicken, wurden kleiner und kleiner. Einen Moment lang spürten sie deswegen einen Stich im Herzen. Würden sie jemals wieder hierher zurückkehren? Und wenn, würde dann ihre alte Welt noch so sein, wie sie es einst gewesen war?
Als ob der Greif ihre Gedanken gehört hätte, spürten sie sogleich dessen liebevolle, tröstende Präsenz und auf einmal konnten sie sich von Herzen auf all das Neue freuen, dass da, in den Nebeln der Zukunft, auf sie wartete. Auch wenn sie noch nicht wussten, was dieses Neue genau sein würde.
Eine Weile flogen sie über weite Wiesen, Wälder und Felder. Sie waren nun bereits so hoch oben, dass sie keine genauen Details mehr erkennen konnten. Dennoch fühlten sie sich absolut sicher auf dem Rücken des smaragd- weissen Mischwesens, als wären sie eingebettet in eine Sicherheit und Geborgenheit, die sie vor jeglichem Leid bewahrte. Dadurch spürten sie weder den Druck noch die Kälte die in dieser Höhe herrschte.
Schliesslich erschien unter ihnen eine endlose, türkisblaue Oberfläche, über welche nur einige vereinzelte Schäfchenwolken zogen.
„Wir sind über dem Meer!“ rief Julia. „Unglaublich! Es sieht so friedlich aus!“ „Ja, das stimmt. Wenn man all das so von hier oben betrachtet, kommt es einem tatsächlich vor, als sei alles auf der Welt noch in bester Ordnung. Doch unter dieser makellos wirkenden, glänzenden Oberfläche, schlummert so viel an Leid und Finsternis...“
„Ich weiss,“ gab die Frau zurück, „doch ich will darüber jetzt nicht nachdenken. Geniessen wir doch einfach diesen aussergewöhnlichen Flug. Es ist wundervoll!“
Daniel nickte und legte die Arme enger um seine Frau. Dabei bettete er sein Kinn auf ihre Schulter und sprach: „Du hast recht. Tut mir leid! Wir sollten uns unseren Optimismus bewahren. Immerhin haben wir in den letzten Wochen so manches Wunder erlebt und der Ritt auf diesem gewaltigen, magischen Wesen ist der Höhepunkt dieser Wunder!“
„Ja, das finde ich auch,“ gab die Frau zurück und schmiegte sich an ihren Mann.
„Ihr habt tatsächlich allen Grund optimistisch zu sein!“ erklang nun die volle Stimme des Luft- Greifs. „Und glaubt mir, wenn ich euch sage, dass dieser Ritt auf meinem Rücken noch nicht wirklich der Höhepunkt der Wunder ist. Da warten noch viel grössere Wunder auf euch. So haltet euch jetzt gut fest, ich steige noch etwas höher!“
„Noch höher!?“ rief Daniel erstaunt aus. „Geht das denn überhaupt?“
„Ja klar! Meine Magie macht das möglich. Vertraut mir einfach!“
Mit diesen Worten begann der Greif kräftig mit seinen gewaltigen Flügeln zu schlagen und schraubte sich dadurch höher und höher in den Himmel hinauf.
Auf einmal fühlten sich Julia und Daniel wunderbar entspannt und voller Frieden. Es kam ihnen plötzlich vor, als würden sie durch einen besonders lebendigen Traum, aus klarer Luft, watteweichen, schimmernden Wolken und leuchtendem Himmel schweben. Das Licht war auf einmal ganz anders und auch sonst intensivierten sich ihre Wahrnehmungen. Ein Gefühl von Glückseligkeit, Freude und Leichtigkeit ergriff sie. Was geschah da bloss mit ihnen?
„Nur keine Angst!“ meinte der Greif mit sanfter Stimme. „Ihr befindet euch nun in einem besonderen Dämmerzustand. Das ist nötig für diese Welt hier. Ihr nehmt alles was ihr seht, wohl wahr, aber aus einer erhöhten Bewusstseinsperspektive.“
Die Eltern von Pia und Benjamin wollten etwas fragen, doch irgendwie brachten sie die Worte nicht mehr zusammen, denn ihr momentaner Zustand bedurfte keiner Worte mehr.
Sie waren nun ganz im Gespür, fühlten sich verbunden mit allem, was sie umgab. Sanfte Klänge drangen an ihre Ohren, Klänge, die sie noch nie zuvor vernommen hatten und dieses wundersame Farben und Lichtspiel! Einfach unbeschreiblich!
Nach einer Weile, veränderte sich die Umgebung einmal mehr. Die Luft um sie herum begann nun immer mehr zu schillern, als würden alle Farben des Regenbogens sich darin spiegeln, ähnlich wie in der Gischt eines Wasserfalls.
Die bisher weiss schimmernden Wolken, nahmen einen rosigen Ton an und auch der Himmel verfärbte sich.
Vor ihnen tauchte nun eine magisch anmutende, fruchtbare Insel auf! Diese schien auf dem Meer aus rosafarbenen Wolken zu schwimmen.
„Wir sind da!“ vernahmen sie die Stimme des Greifs in ihrem Inneren. Dann setzte das gewaltige Wesen zur Landung an!
Auf einer märchenhaft anmutenden Au, fanden sie sich wieder, deren Gräser und Blumen in einem sanften, lauen Wind wehten. Es waren jedoch keine Gräser und Blumen, die die Turners von ihrer Welt her kannten. Denn diese hier, veränderten ihre Struktur immer wieder, als würden sie aus einem fliessenden, beweglichen Material bestehen. Immer wieder bildeten sich dabei neue filigrane und zauberhafte Manifestationen.
Ganz erschlagen von dieser Schönheit, blickten Julia und Daniel um sich. Die Au dehnte sich endlos um sie herum aus, sich stets wieder verändernd in einer wahren Explosion aus Farben und Formen.
Über ihnen spannte sich ein schillernder Himmel und die goldene Sonne, leuchtete warm auf sie herab. „Wo… sind wir?“ fragte Daniel, wusste dabei jedoch nicht genau, ob er wirklich mit dem Mund oder nur durch Telepathie zu dem Greifen sprach.
„Wir sind in einem der vielen Welten der Lüfte,“ antwortete der Greif. „Herzlich willkommen hier!“