„Lebst du auch dort?“ fragte Julia.
„Nein, eigentlich habe ich ein Schloss, nicht weit von hier. Aber ich komme oft und gerne in die Himmelsstadt. In letzter Zeit sowieso. Es gibt dort gerade eine Menge zu tun und wir behalten alle Welten stets im Blick.“
„Die Erde auch?“
„Natürlich, die Erde ganz besonders, denn die Menschen sind eine ganz aussergewöhnliche Spezies, von der eine Menge abhängt.“
„Was genau meinst du damit?“
„Die Menschen haben, im Laufe der Jahrtausende die Abtrennungserfahrung, in jeglicher Hinsicht, in den Ausdruck gebracht. Nun wird es Zeit, dass sie in die Obhut des Ewigen zurückkehren. Im Menschen vereinen sich Schatten und Licht, mehr als in allen anderen Wesen.“
„Und ich denke, sie sollten sich wieder mehr dem Licht zuwenden,“ bemerkte Daniel.
„Man könnte es so sagen. Das Schattenuniversum muss dabei jedoch bewusst integriert und teilweise noch aufgelöst werden, damit alles wieder ins Gleichgewicht findet. Das führt zu innerem Frieden und somit zur Rückkehr in die göttliche Ur-Quelle.“
„Aber, das ist gar nicht so einfach, wenn man mit so vielen schrecklichen Dingen konfrontiert wird und das ist auf der Erde gerade der Fall.“
„Das stimmt. Dennoch bedarf es nur eine Entscheidung und wenn ein Menschenkind die richtige Entscheidung trifft, dann wird ihm geholfen werden. So wie euch jetzt geholfen wurde.“
„Das ist auf jeden Fall ein tröstlicher Gedanke,“ meinte Julia.
„Dennoch… mir scheint, als seien die Menschen noch weit davon entfernt, solch eine Entscheidung zu treffen.“
„Es erscheint so, weil viele Menschenkinder noch nicht erkennen, dass da noch viel mehr ist als ihre Welt der Abtrennung. Diese Abtrennung wird noch immer in so mannigfaltigen Formen in den Ausdruck gebracht. So macht eure Rasse es sich oft viel schwerer, als es sein müsste. Wenn ihr mehr auf euer Herz, als auf eure Angst und euren Schmerz hören würdet, dann würde sich euch so vieles an Wunderbarem offenbaren. So jedoch, verharrt ihr weiterhin in eurer Welt der Abtrennung.“
„Das ist einfacher gesagt als getan,“ beklagte Julia. „Immerhin wissen viele Menschen überhaupt nichts von dieser wunderbaren Welt hier und fühlen sich den Umständen in den materiellen Ebenen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.“
„Ich weiss, ich habe eure Spezies über Jahrhunderte intensiv studiert und ich kann die Not der Menschen gut verstehen. Deshalb haben ich und meinesgleichen sich auch dazu entschieden, die Himmelsstädte zu betreuen. Hilfe naht aber auch sonst auf unterschiedlichen Ebenen. Auch ihr werdet jetzt immer mehr zu Botschaftern werden.“
„Aber, wie soll das gehen?“ meinte Daniel zweifelnd. „Wir wissen ja selbst noch viel zu wenig über… all das!“ Er machte eine weitschweifende Handbewegung.
„Das wird sich jetzt aber immer mehr ändern. Glaubt mir…“
Während sich die drei so angeregt unterhielten, näherten sie sich immer mehr der Wolkentreppe, welche hinauf zur Weissen Himmelsstadt führte. Und dann… auf einmal öffnete sich vor ihnen ein tiefer Abgrund! Erschrocken wichen die Eltern Turner ein paar Schritte zurück.
„Das… geht hier aber tief runter!“ rief Julia, welche kreidebleich geworden war. „Und… diese Wolkentreppe… sieht nicht unbedingt stabil aus.“
„Sie ist nicht weniger stabil als der Untergrund, auf dem ihr gerade wandelt,“ meinte die Alte Windfrau schmunzelnd.
Julia und Daniel blickten erschrocken zu Boden. „Was… soll das heissen?!“ „Nun!“ lachte die Greisin. „Diese Wiese ist auch nur ein Konstrukt eures Geistes. Für uns Luftgeister sieht das alles ganz anders aus.“
„Du meinst also, dass wir die ganze Zeit nur auf Wolken gewandelt sind?“ „Das könnte man so sagen, ja.“
„Aber warum sind wir dann noch nicht abgestürzt?“
„Das ist in dem Zustand, in dem ihr euch gerade befindet, nicht möglich. Die Schwerkraft ist für euch im Augenblick aufgehoben. Ihr könntet auch schweben, wenn ihr daran glauben würdet, dass ihr dazu befähigt seid. Noch jedoch seid ihr nicht so weit. Darum braucht ihr diese… Illusion eines festen Grundes noch. Es hilft euch dabei, euch in dieser fremden Welt zu orientieren.“
„Das ist schon unglaublich!“ sprach Daniel beeindruckt und schaute vorsichtig in den Abgrund hinab. „Ich sehe da unten auch eine Landschaft und schneebedeckte Wipfel. Ein wundervoller Anblick!“
„Damit magst du ja recht haben,“ sprach Julia und blickte ebenfalls vorsichtig in die Tiefe. „Aber trotzdem bereitet mir diese Wolkentreppe noch immer Kopfzerbrechen. Es ist nicht so einfach alte Gedankenmuster loszulassen. Immerhin besitzen wir noch immer einen Körper und wer weiss, ob diese Treppe uns wirklich zu tragen vermag.“
„Das wird sie, denn eure Körper befinden sich schon in einer höheren Frequenz,“ beruhigte sie die Windfrau.
„Ich kann einfach noch immer nicht recht glauben, das dies so einfach möglich ist.“
„Oh doch, es ist möglich. Sonst wärt ihr doch gar nicht hier. Ihr könnt mehr als ihr denkt. Nun kommt!“ Die Mutter der vier Winde, reichte Julia ermutigend die Hand und diese ergriff sie noch etwas zögerlich.
„Keine Angst!“ redete ihr die Greisin erneut zu. „Ihr steht unter meinem Schutz und dem Schutz meiner Töchter. Bedenkt dabei, dass wir Teil dieses Reiches hier sind. Ihr seid also in jedem Moment von uns gehalten.“
Diese Worte beruhigten Julia nun doch etwas und sie nickte zustimmend. Dennoch schloss sie kurz die Augen, als sie, zusammen mit der Windfrau, die erste Stufe der Wolkentreppe betrat. Diese fühlte sich ganz weich und elastisch an, als würden sie tatsächlich auf kompakter Watte gehen. Sie öffnete zuerst vorsichtig das eine, dann das andere Auge und stellte mit Erleichterung fest, dass sie bisher nicht abgestürzt war.
„Ich habe es geschafft!“ rief sie voller Freude. „Ich habe es tatsächlich geschafft!“ Sie blickte sich nach Daniel um, während sie die zweite, dann die dritte Stufe nahm.
Ihr Mann folgte ihnen mit erstaunlicher Sicherheit auf den Fuss. „Ein Geländer wäre nicht schlecht,“ meinte die Frau. In diesem Moment bildeten sich zur rechten und zur linken Seite tatsächlich zwei Geländer!
„Ach du meine Güte! War ich das?“ fragte sie während sie ihre Finger erleichtert um die, aus dem Nichts entstandenen Steighilfen legte. Auch diese fühlten sich wie Watte an, allerdings ganz kühl und etwas feucht.
„Du machst auf jeden Fall Fortschritte!“ freute sich die Windfrau. „Auch wenn meine Töchter und ich diesmal noch etwas nachgeholfen haben. Eines Tages jedoch werdet ihr keine Hilfe mehr benötigen, um gewisse Dinge in dieser Ebene zu manifestieren. Das hat euch ja der Luft- Greif bereits gesagt. Legen wir also einen Zahn zu. Wir sind gleich oben!“ Die Turners nickten enthusiastisch und dank der Geländer, hatten sie das obere Ende der Wolkentreppe schon sehr bald erreicht.
Tief beeindruckt blieben sie dort oben stehen und blickten um sich. Vor ihnen lagen die schimmernden Gemäuer der Weissen Himmelsstadt!