Die Zweifel des Gnomen- Ältesten
Bald erreichten sie die geräumige Wohnnische des Gnomen- Ältesten. Sie war Teil einer eindrücklichen Höhle, die von mehreren Sintersäulen (Tropfsteinsäulen) getragen wurde. Viele Gnome lebten hier dicht an dicht und begrüssten ihren Ältesten und seine Begleiter mit einem freundlichen, respektvollen Kopfnicken.
„Setzt euch doch!“ forderte dieser sie nun auf und sie nahmen auf einigen Stühlen Platz, welche um einen Tisch standen. Dieser wurde von einer grösseren Öffnung, die sich direkt darüber befand, erhellt.
Wurzelwerk von Pflanzen und Bäumen, drang aus Wänden und Deckengewölben hervor. Dort wo mehr Tageslicht hinreichte, wuchsen Moose und Farne. Ein kleines Rinnsal lief durch die Öffnung, über ihnen, an einer der Wände herab, in ein kleines Auffangbecken. Das Wasser war klar und sauber, man konnte es problemlos trinken.
Mungoluz brühte an einer kleinen Feuerstelle etwas Tee auf und reichte seinen Gästen dazu gesüsstes Fladenbrot und eine Auslese von verschiedenen Beeren. Dann setzte er sich zu ihnen.
Benjamin hatte sich schon zu Beginn prüfend umgeblickt und jetzt stellte er eine Frage, die ihn schon länger umtrieb: „Wir hörten, dass ein Anschlag auf dich verübt wurde, grosser Weiser Mungoluz. Dennoch scheint niemand hier zu sein, der dich wirklich beschützt. Auch dein Wohnbereich ist kaum abgesichert. Ist das nicht etwas gefährlich?“
Der Älteste winkte ab. „Ach weisst du, alle meine Nachbarn passen auf mich auf und wir haben auch noch einige zusätzliche Wachen aufgestellt. Diese schauen regelmässig nach mir.“
„Aber, ob das reicht? Du solltest auch deinen Wohnbereich besser absichern. Vielleicht mit Bretterkonstruktionen vor den Fensteröffnungen, die man im Ernstfall herunterklappen könnte und einer Tür.“
„Ach Benjamin, es ist lieb von dir, dass du dir solche Gedanken um mich machst, aber solche Massnahmen mögen etwas für die Menschen- Völker sein, nicht aber für uns Gnome. Wir wollen uns nicht durch irgendwelche Bretterwälle und verschlossenen Türen von unseren Brüdern und Schwestern abschotten. Solche Dinge führen nur zu ungesunden Abtrennungsgefühlen, welche dem Wesen meines Volkes überhaupt nicht entsprechen. Wir alle sind ja schliesslich Eins.“
„Dennoch, scheinen einige deiner Artgenossen das anders zu sehen. Sonst hätten sie diesen Anschlag auf dich doch nicht verübt.“
„Wo wir gerade von diesem Anschlag sprechen,“ mischte sich nun auch Lumniuz ins Gespräch: „Was ist eigentlich genau geschehen? Morcheluz meinte, dass es vermutlich die Nordoks waren, welche dir Leid zufügen wollten.“
Mungoluz seufzte traurig und sprach: „Genau wissen wir es nicht. Es… ging alles so schnell. Doch…, nach dem was sich in letzter Zeit im Nordviertel alles so zusammengebraut hat, ist das auf jeden Fall denkbar.“
„Morcheluz erzählte ausserdem, dass die Nordoks unzufrieden seien und immer mehr Überfälle auf die anderen Viertel verüben.“
„Ja, das stimmt. Es scheint fast so, als wären sie unzufrieden mit der herrschenden Ordnung im Erdreich. Eigentlich wollte ich vor einiger Zeit in den Norden reisen, um mit ihnen zu verhandeln.
Aber kurz nachdem ich die Grenze des Nordviertels überschritten hatte, stach jemand von hinten mit einem Messer auf mich ein. Sein Gesicht war von einer Kapuze verhüllt, darum erkannte ich ihn nicht. Als ich mich umdrehte und mich zur Wehr setzen wollte, stach der Attentäter erneut mehrmals zu. Dann schlug mich jemand nieder und… ich fand mich erst später in einem Lazarett im Westen wieder. Die Westeks hatten mich zum Glück gerettet. Sie versorgten meine Wunden und kümmerten sich liebevoll um mich. Dort traf ich dann auch auf Morcheluz. Er berichtete mir von den vielen Schandtaten der Nordoks und dass sie ihretwegen ihre eigenen Grenzen besser bewachen müssten. Nur den zusätzlichen Patrouillen, die sie an den Grenzen aufgestellt hatten, war es zu verdanken, dass ich diesen Anschlag überlebte.
Die negativen Berichte über das Chaos im Norden, häuften sich nach und nach und so beschlossen wir schliesslich, dich um Rat zu ersuchen Lumniuz. Du bist schliesslich sehr hoch angesehen in allen Vierteln. Ein guter Kämpfer, sowie ein talentierter Stratege.“
Der Angesprochen wurde sichtlich verlegen und erwiderte: „Ach, so talentiert bin ich nun auch wieder nicht. Du bist viel talentierter als ich, ausserdem viel weiser und angesehener. Wenn die Nordoks auf jemanden hören, dann auf dich.“
Ein Schatten der Trauer fiel über Mungoluz‘ Gesicht. „Leider zweifle ich, seit diesem schrecklichen Anschlag, sehr an dieser Tatsache, mein Sohn. Ich habe richtiggehend Panik davor, mich nochmals in den Norden zu wagen. Ich bin einfach zu alt für solche Auseinandersetzungen. Meine Knochen sind müde geworden und meine Gehirnwindungen eingerostet.“
„Ach was!“ rief Pia aus. „Du bist doch noch immer sehr rüstig, lieber Mungoluz.“
Der Gnom lächelte die Frau an und drückte leicht ihre Hand. „Das ist sehr lieb von dir Pia. Aber ich will mir da nichts vormachen.“ Wieder seufzte er tief. „Vermutlich wird es langsam Zeit, dass ich abtrete. Schlussendlich bin ich nur noch ein Relikt aus vergangenen Epochen. Vielleicht sind die Ereignisse im Nordviertel ein Weckruf, dass es Zeit für mich wird, in den Ruhestand zu gehen und den Jüngeren das Feld zu überlassen…“Er wandte sich wieder an Lumniuz. „Das ist auch mit ein Grund, warum ich dich hierher zurückberufen habe. Ich möchte sicher sein, dass das Erdreich in guten Händen ist, wenn ich mich mehr und mehr zurückziehe.“
„Aber… wir brauchen dich doch!“ rief der jüngere Gnom aus. „Besonders jetzt da sich die Lage in allen Welten immer mehr zuspitzt. Es ist ein grosser Wandel im Gange, das weisst du. Darum sind gute, weise Männer wie du noch unentbehrlicher geworden.“
„Ich werde dir auch weiterhin mit meinem Rat zur Seite stehen, aber ich bin… einfach müde geworden. Ich mag nicht mehr kämpfen. Ich sehne mich nur nach Ruhe.“
Die Geschwister musterten den Gnomen- Ältesten besorgt. Dieser schien, durch den Anschlag, der auf ihn verübt worden war, wirklich sehr erschüttert zu sein.
So sprach Pia mitfühlend: „Wir können verstehen, dass all diese Ereignisse sehr schwer für dich waren. Dennoch darfst du nicht aufgeben! Wir brauchen dich für die Verhandlungen mit den Nordoks. Da hat Lumniuz recht.“
„Aber ich will… nicht mit ihnen verhandeln!“ Der Gnomen- Älteste erhob sich ruckartig von seinem Stuhl und ging in seiner Wohnkammer unruhig auf und ab. „Ich weiss gar nicht, wie ich in dieser Sache vorgehen soll. Bisher haben sich alle Viertel grösstenteils selbst verwaltet und es hat lange reibungslos funktioniert. Doch irgendwann muss sich die Lage im Norden zugespitzt haben. Ich habe das jedoch nicht bemerkt, es unterschätzt. Es liegt dort so vieles im Argen und ich… ich fühle mich, als hätte ich auf der ganzen Linie versagt.“
„Aber das darfst du nicht denken! Du warst immer ein wundervoller Anführer und Ältester. Ich bin sicher die meisten Gnome sehen das nach wie vor so.“
Mungoluz setzte sich wieder hin und starrte ins Leere. „Ich weiss nicht ob das wirklich noch stimmt… ich weiss es nicht. Das alles… es macht mir schrecklich zu schaffen. Es ist… als wäre meine ganze Welt aus den Fugen…“
Er konnte nicht weitersprechen, denn auf einmal wurde die ganze Höhle von einem Beben erschüttert. Schutt fiel von Decken und Wänden herab und weit in der Ferne glaubten sie ein lautes Brüllen und Kreischen zu vernehmen, das sich noch mehrmals wiederholte. Jedes Mal folgte darauf erneut eine Erschütterung. Die Freunde duckten sich und hoben ihre Arme über den Kopf, damit dieser von den herabfallenden Steinen und Erdbrocken geschützt war.
Dann war der Spuk auch schon wieder vorbei und sie schauten sich alle ratlos und mit schreckgeweiteten Augen an.