Luftikus
22:00 Uhr bis 22:59 Uhr (Das war knapp)
Ich hatte nie eine Schwäche für Luftikusse.
Oder heißt das Luftiküsse?
Luftküsse.
Küsse, die über eine weite Distanz per Hand durch die Luft geworfen und beim Fangen substanziell werden, wenn man einen Blick in die Augen des Absenders erhascht, und man sie blitzend funkelnd findet.
Voller Schalk.
So etwas mochte ich prinzipiell.
Wenn der Schalk in den Augen leuchtet, aber das tut er leider mit Vorliebe bei einem Luftikus.
Ich sehe ihn noch vor mir, mit ausgebreiteten Armen auf dem Felsenriff. Der Wind zerrte an seinem weißen zerknitterten Leinenhemd, wehte sein blondes Haar nach hinterrücks, und er lachte eine Einladung an das Leben. Ich dachte, wenn ich in seine Arme flöge, dann würden wir stürzen.
Also ließ ich es bleiben.
Den ganzen Sommer über trieb ich mich stattdessen mit Daniele herum, der ehrlich gesagt mitunter etwas dröge war.
Aber zuverlässig.
Wir schlenderten runter zum Strand, um mit einer Handvoll Freunden in der Sonne zu baden und Drinks mit Schirmchen zu schlürfen.
Gelegentlich schwammen wir raus zur Boje.
Mit erhitzter Haut und entspanntem Gemüt trugen wir unsere Sachen am Abend zurück ins Ferienhäuschen, schüttelten den Sand aus dem Handtuch und gingen duschen, um danach oben an der Bar einen Aperitif zu nehmen, bevor wir essen gingen.
Jeden Abend.
Das Gewagteste, zu dem Daniele sich aufraffen konnte, war gemeinsames Duschen.
In der Bar hörten wir Geschichten von ihm, dem Luftikus Sebastiano, und seiner derzeitigen Flamme.
Manchmal erzählten sie sie selbst, die Geschichten.
„Na ja, ich wollte raus zu der Burgruine“, lässig weist er in die Richtung der Felsnase, die ins Meer ragt, „also sind wir mit den Rädern den Schotterpfad entlang.“
„An der Fabrikruine vorbei!“, kreischt die dusselige Kuh hysterisch, „und da standen so Typen. Die waren viel zu jung für Maßanzüge!“
„Mit einem 5er BMW“, grinst Sebastiano schief, „und klappten geraden den Kofferraum auf.“
„Und er“, schrillt die Tussi und zeigt auf ihn, der im Stuhl fläzt, einen Negrino in der kraftvollen Hand, „sagt einfach nur ciao.“
Alle lachen. Anerkennend, zweifelnd und ein bisschen neidisch.
An der Fabrikruine sollte man sich wirklich nicht herumtreiben, schon gar nicht, wenn man eine Frau mit hat.
Witzig ist, dass ihm das irgendwie peinlich ist.
So als wäre es nichts Besonderes, einfach nur mal Ciao zu irgendwelchen Camorratypen zu sagen.
Während Trulla sich noch in der Aufmerksamkeit aller sonnt, schweift sein Blick verlegen ab und streift meinen. Sein Lächeln verändert sich unmerklich.
So sieht er mich immer an.
„Morgen“, kreischt sie, „fahren wir nach Scampia!“
„Nein!“, ruft jemand anerkennend. Luca ordert einen Drink, und Davide, mit dem er seit Neuestem zusammen ist, streicht ihm sachte über den Rücken.
„Ja, das ist ganz toll“, speie ich aus, „wenn man sich schon nicht an der Ruine erschießen lassen konnte, kann man die Camorra ja zuhause besuchen.“
„Luisa“, Daniele drückt meinen Oberschenkel beschwichtigend, „Lass‘ ihn doch. Er ist ein Arschloch.“
Ich spanne den Mund genervt. Es ist eine Sache, die Leute im Problemviertel anzugaffen, als wäre man im Zoo. Eine andere, wenn man nicht nur sein Leben in Gefahr bringt.
ch bin froh, nicht auf seine Avancen eingegangen zu sein.
Wenn mich seine samtenen Augen nicht ständig so streicheln würden.
Ich federe aus dem Sitz, gehe zur Brüstung hinter der Bar und sehe hinaus auf das schäumende Meer. Ganz dunkel ist es nicht. Die Konturen der pontinischen Inseln formen sich deutlich im Abendlicht heraus.
Ich will gehen.
In den nächsten Tagen ging ich ihm gezielt aus dem Weg. Genoss die routinierte Gleichförmigkeit dieses Sommers und lauschte halb fasziniert, halb angewidert den Geschichten.
Wie er bei dem Gewitter in der Nacht zuvor ins Wasser ging und bis zu den hinteren Bojen raus schwamm.
Wie er Davide mit dessen Maserati nach Hause gefahren hatte, und auf der Bergstraße das Gaspedal bis zum Bodenblech durchgetreten hatte. Und Luca und Davide leichenblass aus dem Wagen stürzten und sich die Seele aus dem Leib kotzten.
Wie er Trulla eins gegen Tussi zwei eingetauscht hatte, weil sie sich in der American Bar einfach an ihn geschmissen hatte. Ihr Vorteil gegenüber Trulla eins waren die aufgepumpten Hupen und das nasse weiße T-Shirt.
Ich glaube, sie hatten da ein Wet-T-Shirt-Event.
Daniele hatte so getan, als wollte er deswegen an jenem Abend nicht dorthin. Weil das widerlich wäre.
Wir hatten dann alleine gegrillt, und irgendwie war die Stimmung nicht gerade ausgelassen gewesen.
Ich dachte mir meinen Teil.
Dachte, wenigstens brachte er weder mich noch sich selbst in Gefahr, ist zuverlässig und versichert mir, wie gerne er mich hat.
Ich glaube, er sagte auch irgendetwas von Liebe, aber da habe ich so getan, als hörte ich ihn nicht.
Irgendetwas fehlte, aber ich war sicher, das zwischen uns könnte etwas von Dauer werden.
Das dachte ich auch noch, als ich mit dem Rad, im Bikini nur mit der halb durchsichtigen weißen Baumwolltunika drüber, mit der Strandtasche über der Schulter neben ihm her Richtung Strand radelte, und mich dieses Scheiß-Auto erwischte.
Ich weiß noch, wie mein Strohhut davon flog.
Wie ich neben meinem zerbeulten Rad lag, neben meinem Kopf eine Blutlache, und dem Hut nachgesehen hatte. Der Sog eines vorbeifahrenden Motorini fegte ihn auf den sandigen Bürgersteig. Passanten traten ihn im Gehen nebenher ein Stück zur Voglio die Mare-Bar. Mit ausgestreckter Hand versuchte ich, ihn zu erreichen, wendetet langsam den Kopf und sah Daniele nur mit völlig entgeistertem Gesichtsausdruck neben seinem Fahrrad stehen, die Hände so fest um die Lenkstange geklammert, dass seine Knöchel weiß hervortraten.
Ich war ganz sicher, neben dem Entsetzen eine Spur Ekel zu sehen, in seinem etwas fahlen Gesicht. Eine Traube Menschen schnatterte aufgeregt. Ich sah nur Füße.
Dann jaulte der Krankenwagen heran.
Dann nichts mehr.
Ich lag schon ein paar Tage hier und es sah ehrlich nicht gut aus. Die Hüfte zertrümmert. Sie sagten, ich müsste noch Mal operiert werden, danach in eine lange Reha, aber es wäre sehr wahrscheinlich, dass ich immer etwas humpeln würde.
Mit meinem Kopf war alles in Ordnung. Ich weinte nur so viel, weil mich die Verlegenheit meiner Besucher ankotzte. Sie standen da blöd herum, legten Geschenke auf das Nachtschränkchen und wollten am liebsten schon woanders sein.
Ich bekam starke Schmerzmittel. Es war viel zu heiß in diesem Zimmer, so heiß wie meine Tränen brannten, weil Daniele nicht ein einziges Mal herkam.
So viel zu seiner tiefen Liebe.
An einem Freitag klopfte es an der Tür.
Nicht so zaghaft wie sonst.
Überrascht hob ich den Kopf, und als sich die Tür öffnete, erkannte ich Sebastiano, den Luftikus. Sein Lächeln war schwer zu deuten. Verlegen war es überhaupt nicht. Er grinste schief, aber seine blauen Augen waren mit Tränen gefüllt, was er zu verbergen mühte.
„Luisa“, sagte er samten, „Was machst du auch für Sachen.“
„Ich“, hickste ich, „Ich hab das doch gar nicht...“
„Pst“, er kam zum Bett, in dem ich aufrecht saß, schlang seine Arme um mich und drückte meinen Kopf sanft auf seine Brust. Ich sog seinen Duft ein. Irgendein teueres After Shave, aber auch ganz viel Sebastiano und noch mehr Meer.
Eine seiner Hände wühlte zärtlich in meinen rotgoldenen Locken, die nur links am Hinterkopf ausrasiert waren, damit die Kopfverletzung genäht werden konnte.
Seine andere Hand?
Verschwand kurz hinter seinem Rücken, tauchte wieder auf und drückte mir meinen Strohhut aufs Haupt. Er machte einen Schritt zurück, nahm mein Gesicht in beide Hände und hauchte mir einen weichen Kuss auf die Stirn.
„Ich hab‘ den Doc gefragt. Es spricht nichts dagegen.“
„Gegen was?“, krächzte ich und schielte auf die Tür, die sich öffnete und durch die ein Rollstuhl geschoben wurde.
„Dass ich dich mit aufs Boot nehme. Aber nur, wenn du nicht ins Wasser gehst und ich auf dich aufpasse“, er zwinkerte mir zu.
„Aufs Boot?“ Meine Augen weiteten sich.
„Ja“, er hockte sich auf die Bettkante und nahm meine Hand, „Ich muss dich um neunzehn Uhr zurückbringen. Und ich habe da auch was geplant. Ich dachte, morgen Abend gehen wir essen. Und übermorgen nach der OP warte ich bei dir, bis du aufwachst. Ich habe auch schon mal nachgesehen, wo du am besten die Reha machst. Vielleicht kriege ich es hin, dass mein Vater mich dann kurz aus der Kanzlei lässt....“
Und er redete und redete und redete.
Ich bin fast sicher, er redete nur so viel, weil er meine Einwände fürchtete.
Ich erlahmte nicht unter seinen Worten, ich lächelte.
Auf dem Boot kam ich zurück in den Sommer.
In seinen Armen zurück ins Leben.
Heute sind wir verheiratet.
Lange schon und es vergeht kein Tag, an dem er mich nicht mit irgendetwas zum Lachen bringt.
Wenn ich eins von ihm gelernt habe, dann, dass Luftikusse besser sind als ihr Ruf.
Und dass das Leben viel zu wichtig ist, um ernst genommen zu werden.