Ich sah sie fortgehen.
Ohne mich.
Aber auch ich wollte weg. Denn hier war nur das Stöhnen der Sterbenden im Haus, und die klagende Frau, auf deren Rücken ich blickte, als ich in der oberen Etage vorsichtig durch den Türspalt linste. Mittig prangte das gewaltige Himmelbett, an der Wand mit der blaurot rautenförmigen Tapisserie, die alle Zimmer dieser Etage schmückte. Die schweren Samtvorhänge waren aufgezogen, aber den Blick auf den Sterbenden verstellte der Rücken jener Dame, deren elegantes Kleid schmutzig, und deren dunkles Haar verfilzt, weil sie sie längst selbst erkrankt war, was sie vor uns allen zu verbergen suchte.
Ich war hinaus gegangen, weil ich hoffte, an der Seite der anderen verschwinden zu können, hinaus aus diesem pestilenzartigen Gestank, um dem Sterben und dem Jammer zu entgehen.
Ich hatte eine Ahnung von ihren Plänen gehabt. Innocencio und Giovanni hatten von nichts anderem geredet, als der Vorstellung Pampinea und die anderen Mädchen abzuschleppen. Sie diskret zu entführen, irgendwohin auf ein Landgut, um dem hier zu entgehen.
Und ich verstand sie ja auch. Der Magistrat hatte längst die Kontrolle über all das verloren.
Anfangs mühten sie sich mit Verordnungen. Gesetzeshüter standen an allen Ecken und Plätzen, und scheuchten nach Hause, wer über die Straße ging, gleich, ob er einem ehernen Ziel zustrebte oder ob er zu denen gehörte, die glaubten, mit Suff auszutricksen, was die Natur uns geschickt hatte.
Nach einer Weile aber schwankten auch die. Dann fielen sie um und sie vollendeten das Elend, das sich einem bot, wenn man die eigenen vier Wände verließ.
Egal, das ist vorbei, dachte ich.
Ich ging hinunter zum Marcato nuovo und traf unterwegs keinen Menschen. Nur hin und wieder drang ein Stöhnen oder Klagen durch die dicken Mauern. Am Ende der Straße, bevor sie sich der Piazza öffnete, stieg ich über Leichen. Und endlich kamen mir Menschen entgegen. Sie waren auf Abstand bedacht, hielten die Schöpfe gesenkt und sich irgendwelche mit Duftölen getränkten Lappen an die Nasen. Hinter ihnen schleppten Knechte einen schwärenden Toten aus dem Haus. Ich machte einen Bogen um den Trupp, der mich nicht ansah.
Die Gasse öffnete sich. Unter gleißendem Frühlingslicht lag die Kirche Santa Maria Novella, und heraus kamen vier Damen und vier Herren in eleganten Kleidern und in schnatternde Gespräche versunken, und mir wurde klar: Sie machten es. Sie verließen die Stadt, bis das hier vorbei war.
Sie würden zu acht, wie passend, vier Männer, vier Frauen, das Drama auf einem Landgut abwarten.
Ich habe immer gewusst, wie schädlich es ist, anders zu sein.
Amor ist ein willkürlicher Tyrann.
Ich ahnte stets, wie schmerzlich es, ist Aureliano zu lieben.
Der Lebensmut verließ m ich, als ich Aureliano mit den anderen fortgehen sah. Es war viel zu heiß für einen Frühlingstag, was den Gestank unerträglicher machte, aber weil ich sein blondes Haar zwischen den Schöpfen der anderen leuchten sah, bemerkte ich ihn kaum, bis mir bewusst wurde, dass er nichts für mich empfand, und der Schmerz sich wie eine spitze Flamme in mein Herz bohrte. Wenn er ohne mich ging, konnte er nicht erwidern, was ich fühlte.
Es zu ahnen, ist nicht dasselbe wie es zu wissen.
Wie konnte er auch. Er war ein junger Mann, ich war ein junger Mann. Ich sank an den Brunnen vor der Kirche, bereit dafür, dass die Krankheit meinen Schmerz kleidete wie einen Mantel, denn was war das Leben noch wert?
Als meine ersten Tränen flossen, und auf meine Hände, die die angezogenen Knie umklammerten, benetzten, glaubte ich, es wäre der Regen, aber als ich den Blick hob, zeigte sich der Himmel azurn.
Kein Regen, der den Schmerz fortwaschen würde.
Innocencio war voraus gelaufen, wahrscheinlich um die Wagen vorspannen zu lassen. Die Rücken der anderen, ein fröhliches Grüppchen, kichernd und höfisch, sah ich aus meinem verschleierten Gesichtsfeld entschwinden. Doch dann hob sich Aurelianos Blick über die Köpfe der anderen hinweg. Pampinea drehte sich gleichzeitig mit ihm zu mir hin, und sie fächelte sich Luft zu. Über den Fächer hinweg vermeinte ich, sie zwinkern zu sehen, als er sich von der Gruppe löste und zuerst zögerlich, dann forsch zu mir hinkam. Neben mich ließ er sich auf den Boden gleiten.
Und weil alles egal war, weil die Seuche uns lehrte, dass es nicht lohnte, Lügen aufrecht zu erhalten, legte er den Arm um meine Schulter und wisperte: „Ich hätte dich abgeholt.“
Meine tränenschweren Augen blickten auf, und bohrten sich in sein scharf konturiertes Gesichte. Die langen Wimpern, dachte ich. Diese feinen Brauenbögen, der sinnliche Mund.
Eben der kam dem meinen näher, und als sich unsere Lippen trafen, hörte ich wie aus dem Orcus das Jauchzen Pampineas. Auch Laurette kicherte.
Aber es war ein wohlwollendes, ein vergnügtes Kichern.
Das war vor drei Tagen. Jetzt bin ich hier. Mit ihnen, auf dem Landgut von Laurettas Familie, dich nur noch halb so groß ist.
Uns Lust verschaffen, dem Jammer zu entfliehen, ohne die Grenzen des Schicklichen zu überschreiten, höre ich Innocencio noch schwafeln. Wie er da stand, am ersten Abend. Mit dem goldenen Weinkelch in der Hand, als wäre es der Gral, mit einem Salute auf die kommenden Tage, Wochen Monate.
Die Grenzen der Schicklichkeit haben Aureliano und ich da längst überschritten. Am ersten Abend, im Frühlingserwachen, in der Luft, die nach Neubeginn und Hoffnung riecht.
Wir hören die Vögel singen, sehen die Berge grünen, und die Kornfelder wie das Meer wogen. Tausenderlei Bäume sprießen, unsere Herzen tanzen einen Reigen, und in uns die Hoffnung, das alles findet bald ein Ende.
Davide Davanzati, Castelfiorentino nahe Florenz, im Jahr der Pest 1348