In der Nacht, dunkel ist sie, der Mond nur eine silbrige Sichel, tappt sie barfuß über nachtfeuchtes Gras, die Schatten zerbrochener Säulen mit jedem Schritt durchbrechend. Überlagernd.
Geräusche sind da zunächst keine, die Stille so absolut, als hielte die Welt den Atem an. Das feuchte Gras zwischen ihren Zehen kitzelt, bis sie die Tür erreicht und knarzend - da der erste Ton! - die Tür aufstößt.
Erstaunlich, aber sie ist so wenig wurmstichig, als wäre sie gestern gezimmert worden.
Die Sichel des Mondes erdolcht den Herrn an seinem Kreuz am Ende des Kirchenschiffs, das sie links liegen lässt, denn deshalb ist sie nicht hier.
Nicht um zu beten.
Was sie sucht, ist unten, und die kalten Stufen zur Krypta huscht sie schnell hinunter, eine Hand immer an der kühlen steinernen Wand, als fürchtete sie zu straucheln.
Die steinernen Sarkophage liegen still.
Wie sollten sie auch anders sein, wenn nicht still. Es ist kein Leben mehr darin, und doch…
Einen feinen Moment stockt ihr der Atem. Sie schließt die Augen.
Die Geräuschkulisse ist überwältigend. Bersten, Brechen, Stahl auf Stahl, Leib auf Leib, Schrei um Schrei…
Sie klappt die Lider auf.
Stille, in der sie den Sarg in der Mitte erreicht.
Vorsichtig streicht sie mit einer Hand über das in Stein gehauene Wappen.
Es ist nicht ihres, es war seines, so wie alles seins gewesen war, von der kleinsten kriechenden Kreatur, die im Schutz langer Halme über die Wiesen streicht, bis zur höchsten Erhebung des lieblichen Landes, das er nahm, wie er sie genommen hatte.
Wie sie ihn genommen hatte.
Wie sie einander genommen hatten.
Und doch war alles seins gewesen, und sie weiß, dass sie es verlieren wird, sein Erbe, weil sie nicht die Kraft hat, dieses immense Vermächtnis zu halten, und wenn sie noch so sehr bemüht, ihre Hände hinein krallt - es ist zu gewaltig für sie.
Großer Gott!
Wenn ich die Augen schließe, ist er noch da. Wenn ich sie schließe, ist er da, und trägt mich mit seinem Lachen hinfort, das allen Hader, alle Ängst, alles, was Gott erschaffen hat, um den Menschen an seine geringe Bedeutung zu gemahnen, fortwischt wie Fliegendreck, denn mal ehrlich - hätte es jemand gewagt Alexander den Großen aufzuhalten?
Oder Julius Caesar?
Mit dem Rücken lehnt sie, sitzend jetzt, an der Kälte des Granits, indem der einstmals warme Leib der Verwesung anheimfällt. Die Hände vor dem Gesicht ringt sie das Schluchzen in der Kehle nieder.
"Zuweilen war da eine Süße in dir, meine Liebe, umstellt von bestürzenden Eigenschaften."
"Was?" Sie nimmt die Hände fort, blinzelt. War das…
Das war seine Stimme gewesen.
"Wie meinst du das?", wispert sie und lauscht.
"Machtgier, Geltungssucht, Lebenshunger…"
"Das musst du gerade sagen", ätzt sie, mit dem Tonfall, die Tränen weg.
Sein spitzbübisches Lachen rinnt ihr das Rückgrat hinab. "Bestürzend, sagte ich es nicht? Ich habe immer die Ansicht vertreten, dass wir hervorragend zueinander passten."
"Wir wurden so geboren", haucht sie.
"In Ländern, hunderte von Meilen voneinander entfernt."
"Du bist gekommen…"
"Um zu siegen."
"Zu bleiben."
"Ich wäre nicht geblieben ohne Sieg."
Sie blinzelt.
Wenn ich jetzt nicht gehe, werde ich bleiben, und verloren haben, weil sie mich, wie eine Geisteskranke, würden fortschleppen müssen. Mich zuckend windend vor Schmerz, weil du mir fehlst.
"Ich schaffe das nicht!", schreit sie und fängt ihre Worte ein, die von den Wänden zurückprallen. "Ich schaffe das nicht."
"Natürlich schaffst du das. Du hast einen Freund. Ich bezweifle allerdings, dass unser Sohn es schafft. Es wäre besser, wenn du, wenigstens Salerno allein regierst und den Rest in die Hände…"
"Nein!" Wütend springt sie auf. Hastet zur Treppe, setzt einen Fuß auf die untere Stufe, und schwingt noch einmal herum, denn ihr war, als wäre da ein Flüstern gewesen.
Sie kneift die Augen zusammen. Doch da war nichts, keine Kulissen aus Tönen, nur ein Atem, doch der ist über ihr.
Erschreckt reißt sie eine Hand an die Kehle. Die Treppe ist steil, und zuerst sind da nur Füße, die sich langsam nähern, dann, als sich die Gestalt in ihrer gesamten Pracht manifestiert, zerfasert die Angst und macht einer leisen Verärgerung Platz.
"Was machst du hier unten, meine Liebe?"
"Nach was sieht es denn aus, Cesare?" Ihre Stimme ist noch bar jeder Festigkeit. "Ich vermisse meinen Mann."
"Bitte sag mir nicht, dass du mit ihm reden wolltest." Jetzt steht er eben ihr, der Freund, der einzige, dem sie ihre Schwäche eingestünde, wenn sie imstande wäre, anderen Menschen Schwäche zu zeigen. Das sie überhaupt schwach hatte sein können, hat er mit ins Grab genommen.
"Und wenn es so wäre?"
Er legt einen Arm um ihre Schulter, lotst sie langsam die Stufen hinauf. "Die meisten Menschen haben schon zu Lebzeiten nichts sinnvolles zu sagen", parliert er süffisant. "Mir ist schleierhaft, woher wir die Überzeugung nehmen, dass sie sich im Tode zu wahren Orakeln entwickeln."
"Alles, was Robert gesagt hat, war sinnvoll." Sie schüttelt seinen Arm ab und stürmt voraus.
Kurz hält er inne, neigt den Kopf zur Seite. "Alles, was er tat, war sinnvoll. Was er sagte, hatte gewiss auch einen Sinn, der sich meist nur ihm selbst erschloss, meine Liebe, denn wenn du ehrlich bist, musst du eingestehen, dass er nicht eben selten gelogen hat."
Er sieht zu ihr hoch, wie sie im heranbrechenden Licht des Tages in der offenen Tür steht.
"Komm wieder ein Stück runter", bittet er sie sanft. "Es wirkt, als brächest du unter der Last eines Heiligenscheins zusammen."
"Ich breche zusammen!", weint sie, fällt mehr als das sie geht, in seine Arme.
"Aber nicht doch…" Zärtlich streicht er ihren Rücken, vergräbt sein Kinn in ihrem Haar. Sein Atem, warm und frisch an ihrem Ohr. "Er war der charmanteste Ganove, den die Welt gekannt hat", flüstert er. "Ein großer Stratege, ein großherziger Gewinner, ein unerträglicher Verlierer…"
"Er hat nie verloren", schluchzt sie.
"Natürlich hat er das. Der Tod dachte zwar anfangs bestimmt, das wäre sein Ende, aber er wäre ja nicht der Tod, wenn er nicht schließlich siegen würde."
"Cesare?"
"Hm."
"Sei einfach still."
"Das liegt mir nicht. Und dir auch nicht. Deine Stimme ist die Geräuschkulisse meines Lebens."
Sie macht sich los von seiner Brust, verbleibt aber in seiner Umarmung. "Das musst du grade sagen."
Er lacht zwar, aber in diesen gigantischen dunklen Augen schimmern Tränen. An die Hand nimmt er sie, zieht sie langsam wieder die Treppen hinauf.
Ins Licht.