Wenn jemand ein sicheres Gespür für absurde Situationen hat, ist es Nelly, obwohl sie sich dessen zwar sehr bewusst ist, die anderen aber nicht.
Das macht das Absurde aus – es ist allgegenwärtig, springt einen an jeder Straßenecke an, zerfleischt massenweise Leute, die unsichtbar entstellt weitergehen, weil sie nichts merken, was sie zwingend zu einem Teil des Absurden macht.
Das dann wiederum Nelly anspringt.
Deshalb ist sie auch dauernd so genervt.
Denn am Ende ist sie immer diejenige, die für seltsam befunden wird.
Und Lynn. Bei der ist das auch so, und sie wollen nur in die Oper.
Vorher schreibt Nell' auf der A 46 in ihr Handy, dass sie sich, laut Navi, 8 Minuten verspäten wird, weil sie den Stau umfahren muss, was sie wiederum durch komplett Wuppertal zu führen scheint.
Die Navis der anderen machen das auch – sie durch die Stadt lotsen.
Sie stellt sich die Frage, ob es irgendeinen Unterschied macht, ob sie im Stau auf der Autobahn oder im Stau in der Stadt steht, zumal es an Wuppertal nichts zu be -stau nen gibt.
Sie steht hier schließlich nicht mitten in Rom im Stau und staunt.
Sie guckt auf massenweise Stahlträger in Mintgrün und fragt sich, ob Schienen auf der Straße nicht doch ein ansehnlicheres Stadtbild erschaffen, als Schienen in der Luft. Die Schienen auf der Straße müssen nicht von Stahlträgern gehalten werden, auf die ein Großteil der Anwohner starrt, wenn sie aus den Fenstern ihrer Wohnungen schauen.
Morgens in der Küche, sein Müsli löffelnd, beäugt von Fahrgästen auf dem Weg zum Büro?
Wenn man auf der zweiten Etage wohnt?
Und weshalb antwortet Lynn eigentlich nicht auf die Whatsapp?
Die Bahn überfährt Nelly gerade, sie zuckt zusammen.
Es sind schon Elefanten aus der Wuppertaler Schwebebahn gefallen.
Das Handy bimmelt, sie betätigt die Freisprechanlage.
„Es sind schon Elefanten aus der Wuppertaler Schwebebahn gefallen“, sagt sie zur Begrüßung. Der Tonfall unmerklich vom Stau genervt.
„Ich weiß“, gibt Lynn zurück. „1950, aber inzwischen ist der Tierschutz etwas weiter. Hör mal…“
„Aber nicht viel.“
„Ja, ich weiß. Aber du bist eine Stunde zu früh.“
Nelly stutzt. „Nein.“
„Doch.“
„Ah.“
„Wenn du magst kannst du herkommen, und…“
„Nein, lass nur. Hier geht es voran wie in Schneckenhausen. Wenn ich in Cronenberg ankäme, könnten wir direkt wieder los. Ich setzt‘ mich da in die Brasserie.“
Sie beendet das Gespräch, hofft, die Brasserie neben der Oper, in der sie um 16:30 Uhr - Nein – um 17: 30 Uhr einen Tisch reserviert haben, hätte Tische und Stühle draußen aufgestellt, dann könnte sie einen Gin Tonic und eine Zigarette…
Lange Rede – kurzer Sinn: Der Laden macht erst um 17:30 Uhr auf, also macht sie was?
Sie marschiert forsch auf das Bahnhofsgelände auf der Opernrückseite zu, an dessen Außenfassade eine Gastronomie einlädt, an der steht, dass sie eigentlich eine Buchhandlung ist.
Absurd erscheint ihr das erstmal nicht. Die beste Bolognese, die sie je gegessen hat, hat sie in einer Buchhandlung in Bologna gegessen.
Absurd hingegen ist tatsächlich, dass es eher ein Zeitschriftengeschäft als eine Buchhandlung ist.
Von Schöner Wohnen, über Heim und Hund, bis zu Meine Familie und ich, ach, und circa fünf Bücher.
Egal, die Zeit schreitet voran, und Nelly um 17:20 in die Brasserie, denn einer der Mitarbeiter hat Mitleid mit ihr und lässt sie vorher ein. Dass ihre Blase voll ist, steht ihr schon im Gesicht, denn der Bursche erklärt ihr ungefragt, wo die Toilette ist.
„Dort geradeaus.“ Galant zeigt er nach links. „Am Ende des Ganges.“
Am Ende des Ganges öffnet sie die Tür und stolpert eine Stufe abwärts in den Operninnenhof.
„Also, das ist doch…!“
Sie wirbelt herum, starrt dem Ober ins Gesicht, der auf eine Tür rechts von ihm zeigt, die definitiv nicht am Ende des Ganges liegt, und direkt hinter ihm steht Lynn. „Verzeihung. Das WC ist hier.“
Lynn winkt.
Nelly winkt albern zurück, sagte Danke zum Keller, ruft ihn aber sofort zurück und zuckt mit der Hand zur Tür. „Da klebt ein Zettel, auf dem steht, es wäre defekt.“
Lynn reißt die Brauen hoch.
Der Kellner schaut verblüfft. Dann: „Ach so, nein. Die Tür ist die defekt..“
„Man kann sie doch öffnen“, wendet Lynn ein, derweil sie sie vor und zurück schiebt.
„Äh?“ Der Kellner guckt dumm.
Nell‘ entert das WC, um zu gucken, ob sich die Räumlichkeit in Luft auflöst oder nicht, weil sie doch defekt… oder sie gegebenenfalls in eine andere Sphäre gebeamt…
„Man kann sie nicht abschließen“, stört der junge Mann ihre Gedanken.
„Ah, egal.“
„Dann ist der Schließmechanismus defekt und nicht die Tür“, korrigiert Lynn.
„Äh, was?“ Er blinzelt.
„Ich gehe dann jetzt da…“ Nelly zuckt mit der Hand in den Raum, entschwindet und schließt die Tür.
„Ich halte Wache!“, ruft die beste Freundin.
Wenigstens gibt es keine weiteren Überraschungen im WC, sieht man von dem Handdesinfektionsspender ab, der, wenn man ihn drückt, das Desinfektionsmittel überall verteilt nur nicht auf den Händen. Entsprechend genervt wäscht sie sich die Hände mit Wasser und Seife. Hat ja jahrhundertelang so funktioniert.
Endlich am Tisch, und sich angemessen begrüßt verteilt der Kellner die Karten.
„Ich hätte vorab schon mal gerne einen Basil mash“, sagt Nelly.
„Äh?“
„Ein Aperitiv? Gin, Lemon, Basilikum?“
„Tut mir leid, als Aperitiv kann ich Ihnen nur Hugo oder Aperol Sprizz anbieten.“
„Ach?“ Linda wischt sich das Blondhaar von der Schulter.
„Aperol“, presst Nelly raus. „Zweimal.“
Bis zum Operneintritt passiert erst mal nichts was absurder wäre als der Anzug des Mannes, der vor ihnen am Kartenabriss vorbeigeht. Alexander Dobrindt würde vor Neid erblassen, aber das ist Geschmackssache.
„Sie gehen hier auf die zweite Etage“, erläutert die junge Kartenabreißerin. „Und dann rechts.“
Sie gehen auf die zweite Etage und Lynn dann rechts, derweil Nell an der Bar fragt, ob sie etwas zu trinken für die Pause bestellen kann. Die Mitarbeiterin schaut wie ein Kalb wenn es blitzt. „Das fragen viele.“
„Also nicht?“
„Nein“, gibt die junge Frau genant zurück. „Aber fragen Sie doch mal den Herrn dort.“
Nell‘ wirbelt herum. Mit dem Herrn dort debattiert ihre Freundin, weil der ihr erklärt, dass sie eine Etage hinunter müssen.
„Aber man hat uns hier hingeschickt“, wendet Nelly ein.
„Das ist aber falsch.“
Die Sache mit den Getränken in der Pause gerät in den Hintergrund, ein Blick auf die Uhr zeigt an, dass es pressiert. Rechtzeitig sitzen sie auf den korrekten Plätzen. Die Ouvertüre setzt ein.
Und es ist ja alles nett. Einschließlich der jungen Tänzerin, die mit einem Schmetterlingskostüm auf der Bühne herum hopst, das Nell‘ vor Karneval, als sie auf der Suche nach einem straßentauglichen Kostüm war, bei Amazon gesehen hat.
Im letzten Drittel von Sempre Libera schauen sich die Freundinnen mit unwahrscheinlich gehobenen Brauen an. Die Sopranistin schafft die Töne nicht mehr runter.
Das was hochgesungen wird, muss am Ende wieder harmonisch runter gesungen werden. Gerade in Sempre Libera – das hat Verdi so gewollt. Aber die Stimme versagt, weil der Hals rau ist, und außerdem hat Violette Valery die Schwindsucht.
Also die fiktive Hauptrolle der Geschichte.
„Vielleicht ist das so authentnischer“, wispert Lynn. "Mit Schwindsucht."
„Ja, aber nicht schöner.“
„Psssst!“, zischt es hinter ihnen.
Sie verdrehen die Augen.
Insbesondere, weil nach exakt diesem Stück alle frenetisch applaudieren. Einige brüllen sogar: „Brava!“
„Ne, nix brava“, zischt Nelly.
„Na ja.“
„Wann hat das eigentlich angefangen, dass man mitten in der Oper applaudiert?“
„Pst, die Leute gucken schon.“
„Die Applaudieren, wenn das Orchester schon ins nächste Stück reinspielt!“ Wütend zuckt sie mit der Hand in den Orchestergraben. Aber sie beruhigt sich.
In der Pause trinken sie nichts, weil man nichts reservieren konnte, und es so voll ist, dass sie alles auf Ex trinken müssten, um rechtzeitig beim dritten Gong drinnen zu sein.
Sie rauchen eine Zigarette. Lynn blättert im Programm.
„Hier steht, Violetta und Alfredo gehen in den Untergrund, bis Alfredos Vater kommt, um sie zu überreden, Alfredo zu verlassen…“
„In den Untergrund?“, schnappt Nelly. „Die verlassen Paris und ziehen sich aufs Land zurück.“
„In dieser Inszenierung gehen sie in den Untegrund. Das erklärt vielleicht auch die Mao-Jacken, die sie anhaben.“
„Ich verstehe die Inszenierung nicht“, mault Nelly. „Will der Intendant Violetta Valery und Alfredo politisieren?“
„Sieht wohl so aus. Als Widerständler gegen überkommene Moralvorstellungen vielleicht…“
„Und am Ende stirbt sie mit einem Molotow-Cocktail in der Hand, oder was?“
Wütend zerdrückt Nelly die Zigarette im Standaschenbecher. Es gongt zum dritten Mal. „Wenn wir für irgendwas ein sicheres Gespür haben, dann für absurde Inszenierungen.“
„Scheint so.“ Linda guckt sich um. „Aber die anderen finden das alles ganz klasse.“
„Ja, und demnächst kleben sich Violetta und Alfredo noch auf der Straße fest. Kommst du?“