Die rot glühende Abendsonne tauchte das Meer in ein feuriges Licht, in dem sie wünschte, zu verglühen. Mit ihm eins werden, um niemals wieder in das Grauen ihrer Erinnerungen zurückzukehren.
Erstarrt stand sie auf dem Wehrgang der Zitadelle und ließ den Wind in ihrem weißblonden Haar zerren, wie die Furcht an ihrem Herzen. Ihre schmalen Hände bebten, doch sie registrierte es nicht. Auch nicht, dass sie das warme Schultertuch unter dem Kinn zusammen presste, weil sie immer zitterte, wenn sie an Gisulf dachte, den sie hinter sich gelassen glaubte.
Leben war das keines gewesen, das sie in den quälenden Jahren ihrer Ehe geführt hatte.
Existieren. Atmen, essen, schlafen. Sich verstecken - unsichtbar bleiben, was oft genug geglückt war. An manchen, aufeinanderfolgenden Tagen, in denen er sich in seinen Hass verstiegen hatte, trunken vom Wein, von viel zu viel Wein, den Kopf rot, angefüllt mit Abscheu auf seinen ewigen Feind, hatte er sie nicht wahrgenommen, selbst dann nicht, wenn sie einander gegenüber gesessen hatten.
Dann hatte sie nicht fliehen müssen, wie sonst oft. Aber es war nur Leid gewesen, egal wohin sie lief.
Damals…
…hatte sie oft hier gestanden und aufs Meer gestiert. Um nichts zu sehen und um nichts zu hören, denn beides war lebensgefährlich. Dabei war Hören unvermeidlich gewesen, denn die wechselnden Launen Gisulfs, ihres Gemahls, zeigten sich allein in der Art der Marter, die er sich für die Ungehorsamen erdacht hatte. An manchen Tagen glühten die Stäbchen fürs Ausbrennen der Augen. An anderen brach er die Knochen derjenigen, die aufs Rad geflochten wurden, eigenhändig. Es gab nie eine Fluchtstatt, egal wohin sie ging, war das Geschrei der Gepeinigten, das erbärmliche, das ihre Angst entfacht hatte.
Entfacht?
Nein, sie war die Angst gewesen. Nicht die Gemarterten hatten sie im Innersten zerstört.
Gisulfs Brüllen hatte ihr Ohr zerfetzt, seine Faust ihren Leib, und sein allumfassender Hass ihr Herz.
Auf ewig.
Denn auch, wenn sie glaubte, errettet worden zu sein, wenn sie annahm, all das hinter sich gelassen zu haben, war das nichts als ein falscher Schein.
Die hell erleuchtete Halle, der Tanz, die Barden, und die übervollen Tische, von denen sich selbst das Gesinde bedienen durfte.
Das perlende Lachen der Hofdamen, die Aufmerksamkeiten, die ihr Tristan entgegenbrachte, die fröhlichen Mägde -- all das streichelte ihr Herz wie eine Feder, so dass sie glaubte, fast glücklich zu sein.
Davongekommen, bis…
… bis sie die Stimme der Herzogin hörte, mit der sie einen Befehl bellte, wenn sie zornig war, denn es war nahezu Gisulfs Stimme.
Wie konnte es anders sein, wo sie doch dessen Schwester war?
Dann zuckte sie zusammen und duckte sich. Als erwarte sie einen Schlag.
Es war unmöglich, das hinter sich zu lassen.
Sie verkrampfte sich, als eine Möwe nah an sie heran segelte. Starrte ihre nach, dann auf die polierte Oberfläche der ruhigen See, auf die schwankenden Schiffe am Kai unten im Hafen. Alles schien wie damals, als Gisulf hier geherrscht hatte, und ihm nichts geblieben war, als die Schiffe, mit denen er seine Raubzüge machte, eines Fürsten unwürdig, nicht mehr als ein Pirat.
Immer wieder holte sie das ein.
Sie musste mit jemandem reden, denn Gisulf war nicht tot.
Verbannt, davongejagt, besiegt vom immer währenden Feind, den er damals schon hatte morden wollen, ihn ausweiden, sein Herz fressen. Der Geifer war ihm zum Kinn hinunter geflossen.
Das ja. Aber nicht tot. Gisulf war noch nicht gestorben.
Sie hatte Dinge gehört…
Weshalb sollten die Ereignisse, die ihn zur Machtlosigkeit verdammt hatten, diese brennende, teuflische Sehnsucht ausgelöscht haben?
Wieso glaubten die anderen, der Sieger, ihn nicht mehr fürchten zu müssen?
Sie strich das windzerzauste Haar hinter die Ohren und ging die Stufen hinunter in den Hof. Die nachlässigen Grüße der Wachleute ignorierte sie.
Da vorne stand Liliana, die Tochter des Herzogs, und sprach mit ihrem Pferd, das ein Stallknecht am Zaumzeug hielt, der es gleich in den Stall, der Pflege zuführen würde. Als sie den Kopf hob, trafen sich ihre Blicke.
Anais zuckte wieder zusammen. Liliana machte ihr Angst. Kraftvolle Frauen lehrten sie immerzu das Fürchten, weil sie waren, was sie nie sein würde. Sie beschleunigte ihren Schritt, als würde sie fliehen, obwohl auch das, was ihr bevorstand, nicht nach ihrem Gusto war. Reden müssen…in klaren zusammenhängenden Sätzen etwas mitteilen, was aller Aufmerksamkeit entfachen würde.
Sie betrat die große Halle des Castello Arechi als hätte sie die Zeit zurückgeschleudert. Als wäre Gisulf noch hier. Mit langsamen, zögerlichen, leisen Schritten, alle Muskeln angespannt, bereit zur Flucht.
Aber im Lehnstuhl saß jemand anderes. Der, mit dem sie reden musste. Erleichterung, ihn nicht suchen zu müssen, wechselte mit der Sehnsucht, zurück in ihr Gemach zu stürmen.
Er blickte nicht auf.
Vor der langen Tafel lag er ganz entspannt in einem gepolsterten Stuhl, die Beine ausgestreckt, an den Fußknöcheln überkreuzt, in der Hand einen gläsernen Pokal mit blutrotem Wein, der im flackernden Licht des Feuers aus dem Kamin bedrohlich schimmerte.
Sie räusperte sich kaum vernehmlich.
Er hob ein Lid.
Das Licht spielte Herbstfarbenspiele in seinem Haar und konturierte sein junges, bildhübsches Gesicht scharf abgegrenzt.
Dann hob er den Kopf und spannte den Mund genervt. Wenig überraschend, so reagierten sie alle hier auf sie, aber vor ihm hatte sie weniger Angst als vor seinem Vater, dessen vermeintliche Herzenskälte sie so tief verwundete, wie Gisulfs Fäuste es getan hatten.
"Anais", presste er hinaus. "Welch Überraschung. Was führt Euch zu mir?"
Sie versuchte ein Lächeln, das die Tränen verbergen sollte. "Ich habe Euch etwas Wichtiges zu sagen."
"Das ist ja sagenhaft", gab er in schwer einzuschätzendem Ton zurück und bedeutete ihr, sich zu setzen.
Zögerlich hockte sie sich auf die äußerste Kante des Stuhls ihm gegenüber.
Sie redete leise aber schnell, mit ziemlich aufgebrachter Stimme von dem, was sie gehört hatte aus Rom, wohin Gisulf geflohen war, vorgeblich um dem Heiligen Vater als Söldner zu dienen.
Er musterte sie nur merkwürdig.
"Jocelin, ich bitte Euch", flehte sie. "Er ist nicht besiegt, bis er tot ist. Und er plant, den Herzog zu morden."