1.11.2021 8:01 bis 9:00 Uhr (das war knapp)
Die Tür stand offen, weil sie die Katze noch reinlotsen wollte, ohne zu ahnen, dass sie keine Chance haben würde, denn um die Ecke kamen Mortitia Adams und Michael Myers.
Mit Kamm auf dem Rücken und mit aufgeplüschtem Schwanz türmte Gracchus, was bestimmt beängstigend aussähe, wäre er tiefschwarz. Aber er war ein getigerter, eher weißer Kater.
Serafina zog eine Grimasse. Nicht wegen des Katers. Der hatte sowieso nur noch was essen wollen, um anschließend auf Erkundung zu gehen. Sie zog eine Schnute, weil ihr der Zirkus auf den Zwirn ging. Sie hatte nichts gegen Kinder, aber eigentlich Besseres zu tun, nämlich das Ersatzteil für das havarierte Ufo von Befanas neuem Liebhaber zu besorgen, was sie ausgerechnet nach Zülpich verschlagen hatte, das ihrer Meinung nach noch immer so aussah, wie nach dem Wikingerüberfall im 800 Jahrhundert: Ernüchternd langweilig, katastrophal zweckmäßig und hässlich, so als erwartete man Ragnars Rückkehr auch noch nach 1200 Jahren.
Entsprechend mies gelaunt stand sie in der Tür ihres Mietshauses, die eine Hand am Rahmen, die andere in der Taille, mit dem Fuß tappend und mit dem Blick auf Michael mit dem Gummimesser und auf die 130 cm kleine Mortitia, die piepste: „Süßes oder Saures!“
Serafina griff blind in die silberne Schüssel auf dem Dielenschrank und stopfte den Kindern je eine Handvoll Riegel und Weingummi in den Sack. Michael fing sofort in Mortitias Beutel zu fischen an. „Das Auge kriege ich!“
„Nein!“, quietschte sie zur Antwort und riss es an sich. Dabei polterte das Auge aus Brause zu Boden. Michael stürzte sich drauf und Mortitia auf Michael: Der Kampf um das Auge war in vollem Gange.
Fragmente der Kostüme wirbelten schon durch die Luft und da hinten kam auch bereits der nächste Trupp. Der Teufel, Herman Munster, Wednesday Adams mit einer kleinen Hexe, Lord Voldemort in Begleitung des Schnitters, die gar nicht erst Süßes forderten, sich vielmehr sofort ins Getümmel stürzten und aus dem Scharmützel eine Schlacht machten.
Keine 5 Minuten später konnte sie nicht mehr zählen, wie viele Kinder sich vor ihrer Tür prügelten. Halb kullerten sie in die Diele, halb wieder raus, aber in jedem Fall walzten sie Hecken nieder und zertrampelten die Thymianbüsche im Eingang.
„Aufhören!“, rief sie.
Niemand hörte auf sie.
„Das Auge ist mir!“, kreischte Michael, dessen Maske verrutschte, was Sommersprossen auf bleicher Haut offenbarte.
„Nein!“, wimmerte Mortitia im Schwitzkasten.
„Es sind genug Augen für alle da!“ , versuchte es Serafina vergeblich.
Natürlich waren sie das. Sie war eine Hexe und als sie konstatiert hatte, wie wenige Brauseaugen in der Mix-Tüte waren, hatte sie welche gezaubert. Sie wollte sich, gerade vor Befana, die Kinder über alles liebte, nicht nachsagen lassen, sie hätte sich nicht gekümmert.
Durch das Knäuel, das die Kinder bildeten, versuchte Serafina mehrere Augen in Mortitias Jutesack zu stopfen, aber als Michael probierte, sie an sich zu reißen, kullerten sie über das Pflaster.
„Die gruseligen Sachen gehören den Jungs!“, schrie er.
Wütend schmiss Serafina die Tür zu, aber zur Ruhe kam sie nicht. Schmerzensschreie, die durch die Tür klangen, ließen sie die Gardine lupfen. Ihre Augen weiteten sich. Zwei Mülltonnen gingen dengelnd zu Boden, der Abfall verteilte sich auf der Straße und in einigen Häuser gingen Lichter an. Und leider waren die Mädchen die Unterlegenen.
Sie musste etwas unternehmen, ob sie wollte oder nicht.
Rasch stürzte sie ins Wohnzimmer, schnappte sich die Glaskugel und sank ins Sofa. Zuerst wusste sie nicht, wen sie um Hilfe bitten sollte, dann dachte sie an Befana, verwarf den Gedanken aber wieder, weil die Gefahr bestand, die Kinder würden der auf der Nase herumtanzen. Befana ließ Kindern alles durchgehen, aber die Jungs verdienten eine Abreibung.
Dann hatte sie eine zündende Idee.
Die richtigen Sprüche murmelnd stellte sie die Verbindung her, bis sie in ein Wohnzimmer schaute, in dem ein überirdisch schöner junger Mann mit Blondhaar, in einem Ohrensessel liegend, in einem Bildband blätterte. Der Kamin knisterte im Hintergrund und beleuchtete den Whisky im Tumbler, den er in einer schmalen langfingerigen Hand hielt, golden. Er hob beide Brauen. „Serafina?“
„Du musst mir helfen! Unbedingt. Vor meiner Tür findet eine Massenschlägerei statt. Die Jungs nehmen den Mädchen die Gruselsüßwaren ab und scheinen überhaupt der Ansicht, die verdienten nur rosa Einhörner oder Ferrero Küsschen!“
Er stellte den Tumbler auf den Eichenholztisch, ohne daran genippt zu haben. „Damit wirst du doch spielend selber fertig.“
„Schon, aber sie verdienen eine Abreibung.“
Er senkte die langen blonden Wimpern in einer ironischen Geste. „Fina, es ist Halloween. Nicht die Teufelsnacht.“
„Luce“, quengelte sie. „Lucifer, bitte.“
Als überlegte er, zupfte er am Gürtel seines bordeauxroten Seidenhausmantels. Dann sah er sie an. Das leuchtende Blau seiner hypnotischen Augen drang tief in den Kern ihrer Seele.
Worte. Worte waren überflüssig, mit dem Blick schickte er zu ihr, was sie sagen sollte, und als sie aufstand, zur Tür schlurfte, war sie schon wieder in ihn verliebt. Sie seufzte. Dann sammelte sie sich, riss die Tür auf und schrie: „Fahrt zur Hölle!“
Die Keilerei gefror, sieben Augenpaare starrten sie an, dann tat sich die Erde auf und verschluckte die Kinder.
Aneinandergedrängt vor Furcht segelte die Gruppe durch den Säulengang hindurch, in dem sich Schimären und Sphinxen vom grob gehauenen Stein ablösten und substanzlose Angriffe auf sie starteten.
„Ah!“ Michael drängte sich an Mortitia. Irgendwo wimmerte der kleine Teufel mit Namen Lars, und als alle mit ihren kleinen Hintern hart auf der ausgedörrten Erde aufschlugen, ging ein kollektiver Schreckensschrei durch die Runde. Die kleine Hexe Emma stemmte sich als Erste auf. „Wo sind wir hier?“
„Keinen Schimmer.“ Mortitia klopfte sich den Staub vom schwarzen Kleid und rückte ihre Perücke zurecht. „Aber da vorne ist eine Stadt.“ Mit verengten Augen deutete sie auf die Silhouette mit Türmen, die sich in der Ferne ausmachte. „Aber vorgelagert ist ein Turm“, sagte sie noch.
„Was?“ Emma runzelte die Stirn und wirbelte zu dem Knäuel wimmernder Jungs herum. „Haltet doch Mal die Klappe!“
Sie schluckten synchron. Emma linste in ihren Sack. „Genug Proviant haben wir ja“, murmelte sie. Dann sagte sie mit fester Stimme: „Dann sollten wir dorthin gehen.“
Die Mädchen in derangierten Kostümen voraus, im Schlepptau ein zahlenloses aneinandergedrängtes Grüppchen Jungs schleppten sich durch die kahle Wüstenei, durch die Schakalschreie fetzten. Dann raste ein Summen heran und sie rannten los, auf den Turm zu. Nicht eine Minute zu früh. Insektenschwärme schwirrten von allen Seiten heran, als sie durch eine Tür schlüpften und sie zu schlugen. Emma atmete schwer.
„Ich will nach Hause“, weinte Michael.
„Dein Bruder ist eine Heulsuse“, sagte Mortitia trocken, als sie sich umsah und entschlossen eine Treppe hochging, zu der Musik hinunter floss.
Emma folgte ihr, den Beutel mit den Süßigkeiten fest an sich gepresst. Auf der oberen Stufe schaute sie böse über die Schulter, was ihr Bruder Michael als die Aufforderung begriff, die sie war. Zittrig folgte er ihr, seine Kumpane taten es ihm in geduckter Haltung nach, immer wieder gehetzte Blicke zurückwerfend. Endlich betraten sie im höchsten Stockwerk den Raum, aus dem die Musik kam.
Ein halb offener Raum, eben von einer fallenden Sonne überpurpurt, und in dem eine Party in vollem Gange war. Deshalb auch die Musik.
Die Menschen in diesem Zimmer, stellte Emma analytisch fest, sahen wie gewöhnliche Menschen aus, nur dass sie unerträglich schön waren.
Wahrer Schönheit, das begriff sie, als sich der blonde großgewachsene Kerl im Smoking zu ihr umdrehte und eine Geste machte, nach der die Musik erstarb, wahrer Schönheit wohnt immer etwas Grausames inne.
Sie schluckte und tat einen Schritt nach vorn.
Er lächelte.
„Wo sind wir hier?“, fragte sie scheu.
Mokant hob er eine Braue. „Irgendwo im dritten Höllenkreis, meine Schöne.“
Emma errötete tief. „Warum?“, brachte sie krächzend heraus.
Mit den Bewegungen einer Katze kam er an sie heran und legte einen schlanken Finger an ihr Kinn, beobachtet von all den anderen Partygästen, die wissend lächelten.
„Die Jungs verdienten eine Lektion. Und ihr sollt sehen, dass sie lernen.“
Er wirbelte herum, schnippte mit den Fingern und das Licht, das eben noch Sicherheit suggerierte, wich tiefster Finsternis.
„Ah, nein!“, winselte Michael.
„Mama!“, sein Kumpel.
„Bist du Lucifer?“, wagte Mortitia zu fragen.
„Ich?“ Im Licht seiner Augen legte er die Hand aufs Herz. „Nein“, log er dann und schnippte erneut mit dem Finger. Ein Spot ging an.
„Das ist der Teufel.“
Die Musik dröhnte über sie hinweg.
"She’s got it… oh Baby she’s got it…“, tönte der Gesang, in dem eine stolze Frau in knallengem Latexanzug mit Teufelshörnern elegant und mit wiegenden Hüften herbei stolzierte. „I‘m your Venus, i’m your fire. Your Desire.“
„Eine Frau“, hauchte Michael und rutschte auf den Hosenboden.
„Wenn du so willst.“ Sie ging in die Hocke und strich ihm über die Wange. Er erschauderte.
Luce klatschte in die Hände. „So! Jungs, Mädels! Die Halloweenparty kann beginnen. Es sind genug Augen für alle da!“
Die Mädchen nahmen sich die blutroten Getränke, die ihnen ein Satyr auf einem Tablett brachte, und die sich als Tomatensaft entpuppten. Die Jungs brauchten eine Weile, bis sie aufrückten und blieben nah beieinander.
Emma, die Augen auf der tanzenden Frau in Latex, drängte sich an den schönen Mann, von dem eine beängstigende Aura ausging. „Das stimmt aber nicht, oder?“
Er ließ seine langen feinen Hände sinken. „Nein“, raunte er verschwörerisch. „Das ist Luisa. Eine Freundin von mir.“
„Du bist der Teufel, oder?“ Ihre Unterlippe bebte, aber ein Teil von ihr wollte lachen.
Er neigte den Kopf zur Seite. „Du siehst, was du denkst.“
„Warum macht ihr das?“
„Ihr habt die kleine Hexe Serafina verärgert. Die Jungs vor allem. Sie brauchten eine Lektion, wie gesagt“ Er legte eine warme Hand auf ihren Rücken, dass sie erschauderte. „Und ihr werdet die Halloween-Party eures Lebens haben.“
„Aber wir sind noch…“
„Kinder, ich weiß.“ Ein Vorhang fiel zu ihrer Rechten, und dahinter machte sich ein finsterer Vergnügungspark aus. „Es gibt auch keinen Alkohol.“ Er zwinkerte ihr zu. „Dafür Achterbahnen und Gruselkabinette, wie ihr sie noch nie gesehen habt.“