Triggerwarnung: Depressionen, Tod und Selbstmord.
Während der Regen, der in schweren Tropfen vom Himmel fällt, auf das Wagendach trommelt, lauschen sie einem eigentlich interessantem Interview im Radio, von dem Nola die Hälfte nicht mitkriegt.
Sebastian, das vermutet sie, vermutlich auch nicht. Auf dem Weg in eines der fünf besten Kölner Restaurants sind sie früh dran, was dem Regen geschuldet ist, aber auch mit den Gedanken noch bei der verstörenden Nachricht, die nicht das Geringste mit der Ukraine zu tun hat, und auch nichts mit Corona. Geschleudert worden waren sie in die Gewissheit, dass es einen Alltag abseits des Krieges, der nur zwei Flugstunden von hier entfernt…
…und abseits der Pandemie gibt.
Am Morgen hat er erfahren, dass eine achtundzwanzigjährige Kollegin verstorben ist, aber nicht, woran.
Am Morgen…
"War sie denn krank?" Nola sank auf die Kante des Sofas, die Decke, die sie falten wollte, noch in Händen.
"Nicht, dass ich wüsste." Er plumpste förmlich neben sie, den Blick immer noch auf dem Smartphone. Sie linste ihn über die Schulter, auf das Wappen das mit einem Trauerflor geziert war.
"Alina war 'ne ganz Fröhliche", murmelte er. "Immer gut drauf, total eloquent, und ein echter Feuerteufel."
"Feuerteufel?" Sie blinzelte.
"Sie schoß gern", feixte er, weil sie normalerweise nicht schießen. Fachleute, IT-ler, Fluglotsen, die höchstens einmal im Jahr schießen müssen, weil es dazu gehört. "Hab' sie seit der Versetzung nicht mehr gesehen, aber das kann nur ein Unfall gewesen sein."
Er schraubt sich hoch. "Ich frag' mal rum."
Er hat rumgefragt, aber offenbar weiß keiner was genaues, die Antworten bleiben zunächst aus, bis auf ihrem Weg ins Restaurant das Telefon zweimal klingelt. Er ignoriert es. "Ich ruf' ihn zurück, wenn wir geparkt haben. Wir sind sowieso zu früh dran."
Sie nickt.
Am Ende stehen sie in der Dämmerung direkt vor dem Eingang des Lokals.
Ganz verwaschen sieht alles aus, denkt Nola, während er mit dem Rückruf beschäftigt ist. Fragmente, Fragen, aber seine Stimme ist leise. Verblüffend, wo sie alleine im Wagen sitzen.
Verwaschen und unscharf. Acht Stufen führen auf ein Plateau, das als nass geregnete Außengastro vor dem warm beleuchteten Inneren des Lokals prangt. Letzte Woche war noch Sommer.
"Selbstmord", sagt er rau. "Sie hat wohl lange unter Depressionen gelitten."
Sie ruckt zu ihm herum, die Stirn gerunzelt. "Was? Ich meine, ich kannte sie ja gar nicht, aber das, was du erzählt hast…"
"Passt hinten und vorn' nicht dazu." Als wäre er müde, womöglich ist er es auch, sinkt er tief in den Fahrersitz, fischt mit der rechten Hand nach der Schachtel Zigaretten in der Mittelkonsole, und lässt mit links die Seitenscheibe runter. Ein Schwall Wasser kommt mit der Frischluft hinein, besprenkelt seine Hosen.
"Das passiert nur, weil Depressionen so stigmatisiert sind", speit Nola angewidert aus.
Er reißt die Brauen hoch.
"Ja." Sie wirft die Hände in die Luft, stößt sich am Handschuhfach, schlackert mit dem Handgelenk. "Überleg' mal. Glaubst du, irgendwer hätte sie noch ernst genommen, wenn sie vor einem Jahr gesagt hätte: Hört mal Leute, so und so sieht es aus, mein Therapeut riet mir, offen damit umzugehen, et cetera."
"Ich glaub nicht, dass das Probleme gemacht hätte", wendet er ein.
Sie nickt, aber ihr Mund ist noch immer genervt gespannt, denn selbst wenn er recht hätte, Alina konnte es nicht wissen. "Das Schlimme ist, dass sie sich selbst stigmatisieren. Weil wir ja damit aufwachsen, dass das was Blödes sein muss. Eine Schwäche und keine Krankheit. das lehrt man uns immer noch."
Wütend klappt sie die Sonnenblende runter, um die perfekte Hochsteckfrisur zu kontrollieren. Mit einem Seitenblick konstatiert sie, dass Alex und Sabine unter einem gigantischen Schirm die Treppen zum Restaurant hochgehen. Gleich würden auch sie aussteigen. Einen Schirm aufspannen.
"War sie allein?" Nola kramt nach ihrem Lippenstift in der Handtasche und rupft den Deckel ab.
"Seit zwei Jahren von ihrer Partnerin getrennt, glaube ich. Im Einsatz war sie auch nie. Ich verstehe das, ehrlich gesagt, auch nicht richtig. Wieso sollte sie das tun?"
"Weil sie allein war." Ohne den Lippenstift benutzt zu haben, verstaut sie ihn wieder in der Taschen. "So jung noch, die Scheißpandemie, niemanden treffen, seit ihr alle Home-Office hattet. Ewiger Winterlockdown 2021. Bis April haben wir da rum gehockt, weißt du noch? Kein Kino, kein Konzert, nichts. Und das allein? In einer Zweizimmerwohnung? Wenn man keine Ängst hatte, war das Saat genug."
Nola legt den Kopf in den Nacken und seufzt.
Dann diese Scham. Um nichts auf der Welt sollte es jemand merken. Immer gut drauf, immer fröhlich, adrett, und, nicht zu vergessen, leistungsfähig.
Ihre linke Hand legt sie auf Sebastians Oberschenkel, aber sie sieht in den Regen hinaus. Auf der langen Veranda, zwischen den Stühlen hindurch, unter dem Schutz der Markisen, schiebt ein Mann einen Kinderwagen. Hinter der Fensterscheibe wird Wein dekantiert. Ein Mann, dessen Haarfarbe sie auf die Entfernung blond einschätzt, schnüffelt daran, als wäre es eine Heldentat. Die Frau lacht.
Seltsam zu sehen, dass es ein lautes Lachen ist, es aber nicht zu hören.
"Und dann kam der Krieg", raunt Nola.
"Wie meinst du das?"
Ruckartig dreht sie sich zu ihm hin, sieht ihn an. "Die Scham wird größer. Depressionen? Wo es Hunderttausenden, nein! Millionen so viel schlechter geht! Keine Aussicht, verstanden zu werden. Nicht, wenn man nicht einmal selbst begreift, dass man krank ist."
Er fährt sich mit der Hand durchs dichte lange Ponyhaar, schnippt die Zigarette aus dem Fenster. "Lass' uns rein. Sie sind ja schon da."
Sie öffnet die Tür.
Rennen, ohne Schirm durch den Regen. Lachen mit Freunden, essen drei Stunden sieben Gängen in jeweils homöopathischen Dosen, haben sich für die Version des richtigen Weins pro Gang entschiede, bis auf Sebastian, der fährt. Und Sabine, die fährt.
Auf dem Heimweg spannen Nola Wangen noch vom Lachen, und doch lag da ein Schatten. Liegt ein Schatten, immer noch.
Ein so junge Leben. Sie würde gerne jemandem die Schuld geben. Am liebsten denen, die jederzeit nach Schuldigen verlangen, wenn Inzidenzen steigen, und die Nase rümpfen, wenn man in Kriegszeiten wagt, zu lachen.
Die Redlichen. Sie waren ihr immer schon suspekt, die Redlichen.
Im Radio reden sie über den neuen Hit von Ok. Kid. Der, jetzt neu, zwar immer noch gesellschaftskritisch aber Tanzbar wäre.
Der Typ singt wirres Zeug… ich bin ein Heizkörper… Nichts davon klingt gesellschaftskritisch.
"Ich würde sagen, der junge Mann hat ein schweres Identitätsproblem." Ziemlich trocken klingt das aus Sebastians Mund.
Nola lacht laut.
Andere würden denken, das erste Mal an jenem Abend wäre ihr Lachen echt, aber das wäre nicht richtig, denn zuvor war es auch nicht falsch gewesen.
Alina wird auch echt gelacht haben. Alina, die gerne lachte, und gerne schoß. Sie wird es für echt gehalten haben, aber da war etwas drunter…
…nein, nicht drunter. Darüber. Eine Schicht. Eis?
Zum ersten Mal, an diesem Abend, kommt es aus der Tiefe ihres Herzens.
"Es gibt Sätze", kichert sie, "die darf nur Grönemeyer singen."
"Ja. Und tanzbar ist ein relativer Begriff."