Unter freiem Himmel?
Etwas anderes kommt überhaupt nicht infrage, oder höchstens wenn es regnet, weil das die einzige Gelegenheit ist, zu der das Verdeck geschlossen ist. Immerhin hat das Ding eine Heizung, und ich im Zweifel eine Mütze, denn auf eine Frisur kommt es im Cabrio auch nicht mehr an.
Ich fürchte, Frau von der Leyen ist die einzige Frau, bei der sich nicht ein Haar krümmt, wenn sie mit 120 Sachen über die Autobahn brauste und das Verdeck unten hat.
Aber ich schweife ab;
Cabriofahren.
Könnte durchaus als Luxus oder Lifestyle-Gedöns durchgehen, tut es bei mir aber nicht, wo ich es womöglich mehr liebe, als manch einer das Motorradfahren. Obwohl man das bestimmt nicht vergleichen kann, denn auf dem Motorrad hat man einen Helm an, und das hat mit frischer Luft nichts mehr zu tun. Zumindest weht einem der Wind nicht um die Nase.
Was ich dafür auf mich nehme?
Im Allgemeinen hieß es, dass ein zweisitziges Cabrio für eine Rollstuhlfahrerin schrecklich unvernünftig wäre.
Nun dachte ich mir, dass ich vernünftig-tot hätte bleiben können, nach dem Unfall, also sei es nun an der Zeit, unvernünftig zu leben.
1998 kaufte ich ein Cabrio.
Das war schon allein wegen unseres Wohnortes unvernünftig, denn in jener Zeit wohnten wir in Dänemark, das nun nicht unbedingt das Land mit den meisten Sonnentagen im Jahr ist.
Aber wir wohnten eben dort, bis 2002 und ich plante, das Auto bis darüber hinaus zu behalten.
Immerhin hatte es eine Sitzheizung, wenn auch kein Windschott, denn ich war jung und dachte, ein Windschott wäre etwas für Warmduscher.
So brauste ich im Alltag frisurlos unter freiem Himmel dahin.
Jedoch nicht, ohne zuvor beim Einsteigen, zuerst das linke Rolli-Rad, dann das rechte Rolli-Rad abzumachen und schräg hochstehend im Fußraum zu deponieren, um dann das restliche, zusammengeklappte Eigengewicht des Rollis schräg über mich auf dem Beifahrersitz zu wuchten.
Der Vorgang ist bei jedem Auto gleich, egal, ob es ein Dach hat oder nicht.
Bei einem Zweisitzer bedeutet das aber, dass eine eventuell mitfahrende Person den Rollstuhl, auseinandergenommen, im Kofferraum deponieren muss, was nicht jedem gelang.
Eigentlich nur meinem Mann.
Die anderen mussten mindestens ein Rolli-Rad mit auf den Schoß nehmen.
In einen Z3- Kofferraum passte nur ein zusammengeklappter Quicky Revolution
(ganz spezielles Faltsystem, des beknackten Namens zum Trotz. Leider steht hinten auf der Rückenlehne das Wort Quicky, was nicht als Aufforderung zu verstehen ist)
Also einer passte rein.
Und vielleicht noch eine Praline.
Im Umkehrschluss konnte ich in den Folgejahren nur ein Rollstuhlmodell kaufen, oder ein anderes Auto.
Letzteres kam nicht infrage.
Besonders viel konnten wir zu zweit mit dem Wagen dann auch nicht machen, verreisen schon mal gar nicht, denn wohin mit dem Gepäck?
Zur Inspektion düsten wir mit unseren Autos in die Fachwerkstatt bei einem Autohändler des entsprechenden Models nach Flensburg, und als ich ihn abholte, den Wagen, stand ich am Tresen und blätterte im Zubehörkatalog.
„Für den Z3 gibt es doch auch einen Koffer, oder?“
Der Händler nickte. „Da brauchen Sie den Gepäckträger. Wird hinten auf dem Kofferraum angebracht und der Koffer rastet dann darauf ein.“
„Okay“, ich blättere auf die richtige Seite, „Ich überlege…“
„Ist das Ihr Auto?“ Sein Blick gleitet über meine im Rollstuhl sitzende Person und ich nicke.
„Ja, dann brauchen Sie den.“
Ich kaufte ihn.
Nur, um im Monat drauf, im April, über unseren Hochzeitstag, nach Göteburg zu fahren, und da wollte ich ja nicht alleine hin. Es ist müßig zu erwähnen, dass es im April in Schweden noch kälter ist als in Dänemark, aber wenigstens schien die Sonne, und unter freiem Himmel brausten wir dahin.
Den Koffer schickte ich leer mit der Post nach Köln, als meine Mutter plante, uns mit dem Zug kommend zu besuchen, als mein Göttergatte dienstlich anderweitig unterwegs war. So konnte er, mit dem praktischen Kombi, sie nicht abholen, und ich bekam ein anderes Gepäckstück ja nicht ins Auto.
Zur Erinnerung:
Zwei Sitze
zwei Passagiere
Der Rollstuhl im Kofferraum.
Ich weiß noch, wie ich mit offenem Verdeck am Bahnhof von Herning stand und sie gemütlich mit dem Köfferchen heran spazierte. Ein breites Grinsen im Gesicht, nicht nur, weil sie sich freute, mich zu sehen.
Auch, weil sie es liebt, wenn ihr bei der Fahrt der Wind um die Nase weht.
2002 kamen wir zurück und bezogen ein Haus etwa 25 km nördlich von Köln, also im Grünen.
Worüber auch immer ich mich auf der Arbeit in Köln geärgert hatte, was immer geschehen war, eines war gewiss: Spätestens im Grünen, unter freiem Himmel dahin düsend, fiel aller Ärger von mir ab.
Nicht einmal Stau konnte daran etwas ändern.
Dieses verdammte Auto hatte eine therapeutische Wirkung.
Allergie ab 2006?
Egal.
Die Frühblüher brachten mich um den Verstand, aber nicht um den Spaß.
Ich fuhr offen nach Hause, und wenn die ganze Motorhaube voller Pollen gelb war, wenn ich aus dem Büro kam.
Nicht eine Sekunde überlegte ich. Das Verdeck kam runter, ich fuhr los, und spätestens nach 3 Kilometern wuschte die volle Ladung Pollen in den Fahrerraum.
Im Mai, wenn die Blütenpollen besonders geballt fliegen, kam ich regelmäßig bis zur Belanglosigkeit geerdet zu Hause an, musste aber eine Kortisontablette nehmen.
"Ist das nicht schrecklich unvernünftig?", fragt mich meine Physiotherapeutin, als ich mit tränenüberströmten Augen und Triefnase auf ihrer Massagebank liege.
"Natürlich", keuche ich, "aber ich kann auch vernünftig tot sein."
Irgendwann, nach 12 Jahren hörte das Auto schlicht auf, dicht zu sein. Erneuerungen am Verdeck halfen nur wenig. Immer, wenn ich mich im Winter in die Karre hockte, war es, als säße ich auf einem Eisblock. Die Luftfeuchtigkeit zu einem Klumpen gefroren, den die Sitzheizung nicht zum Schmelzen brachte.
Ich wagte nicht einmal mehr, sie anzustellen, aus Furcht, einen elektrischen Schlag zu bekommen.
Ich mache es kurz; es wurde verkauft und ein vernünftiges Auto musste her.
In der Folge kam ich wütend von der Arbeit zurück, dafür ohne größere durch Pollen verursachte Schwierigkeiten
Ich fuhr nicht mehr gerne.
Musste aber.
Nach langweiligen sechs Jahren ohne jegliche Beziehung zu meinem Auto kam ich eines Tages vom Einkaufen zurück und verkündete:
„Ich will nicht mehr! Das Ding ist kacke.“
Er sieht mich mit großen Augen an. „Was denn?“
„Das Auto! Den ganzen Weg über fuhr ein Z4 vor mir her. Ich hätte fast geheult.“
Nun mag das klingen, als wäre ich eine verzogene kleine Göre, aber wer das denkt, versteht nicht, was es bedeutet, unter freiem Himmel davon zu brausen.
Der versteht nicht, was es bedeutet, im Rollstuhl zu sitzen und immer zu sehen, was alles nicht mehr geht.
Und dass um jeden Preis erzwungen werden muss, was noch geht.
Nicht alles, ich würde nun nicht unbedingt freeclimben. Es geht nur um die Dinge, die mir etwas bedeuten.
Aber die um jeden Preis.
Siehe Allergie.
Der offene Himmel über mir suggeriert mir eine Freiheit, die wir alle alleine deshalb nicht haben, weil wir in unsere Verpflichtungen eingebunden sind.
Er verschaffte mir zwischen dem Berufsalltag und den privaten Verpflichtungen das Gefühl, unendlich frei dahinfahren zu können. Wenn ich wollte, bis zur Amalfiküste.
Ein Gefühl, nur für den Augenblick, das mich glauben lässt, fliegen zu können.
Es erdet mich.
Es macht mich glücklich.
Das aktuelle Cabrio ist dann auch vernünftig. Und ein Raumwunder. Wir fahren damit jeden Sommer in den Urlaub und es ist unglaublich, was da alles rein passt.
Aber letztlich ist das nur sekundär.
Nur um den Himmel geht es.
Und um die Freiheit darunter.