....als man denkt?
Es kommt immer anders, und mitunter denkt man gar nicht, wie was hätte kommen können, besonders, wenn es sich um Lebensbanalitäten handelt, wie die Entscheidung, wann man aufsteht, das Haus verlässt und ob man, ehe man in die Straßenbahn einsteigt, die einen zur Arbeit fährt, in einem Kiosk eine Zeitung kauft.
In diesem Moment denke ich das natürlich nicht.
Fern von irgendwelchen lebensphilosophischen Betrachtungen blicke ich auf, als ich die helle Stimme meine Patensohnes neben mir vernehme.
„Jane, darf ich dich schieben?“
Ich betrachte den gepflasterten Bürgersteig, fixiere Hubbel, Löcher und Unebenheiten, und denke, dass das vielleicht keine gute Idee wäre, nicke aber trotzdem.
„Pass aber auf, ja?“
Die saphirblauen Kinderaugen strahlen mich an. Ich nehme meine Hände auf den Schoß und erlaube Nicolas, mich in meinem Rollstuhl zum Auto zu schieben. Wir sind eben von der Fußgängerpassage in eine breite Wohnstraße abgebogen, in der sich ein gigantisches Kaiserzeithaus an das nächste schmiegt, was mich ein wenig beruhigt. Denn vorhin, als wir aus dem Lindt-Laden herausgetreten waren, hatte es einen Augenblick so ausgesehen, als wären wir im Fantasialand.
Auch wenn die Straße dort Alt-Berlin hieß.
Diese hier ist glücklicherweise echt und leider ebenso alt wie die Häuser, einschließlich der Autostraße. Hübsch anzusehen ist es schon, die Fassaden sind weiß oder hellgelb, strahlen preußisch' Glanz und Gloria aus, entpuppen sich aber als wenig hilfreich für die Felgen (Auto) und für die Rückenmuskulatur (meine Wenigkeit). Selbst geschoben rumpelt es.
Und das trotz Sport...aber was soll’s.
Die Sonne, eben nach einen Platzregen durch die nassen Wolken gewühlt, malt einen Regenbogen an das Ende der Straße.
Die anderen, Erwachsene und Nicolas‘ großer Bruder, trödeln quatschend hinter uns her.
„Da vorn“, bitte ich und er schiebt mich geschickt um die mit zwei umwickelten Fahrrädern herum stehende Laterne herum.
„Ich habe mir überlegt“, sagt seine helle Jungenstimme, „dass das vielleicht gar nicht passiert wäre, wenn du jemanden getroffen hättest.“
„Das ist richtig“, ich halte mich mit einer Hand am Rollisitz fest und wundere mich über nichts, zumal ich genau weiß, was er meint. Ich habe schon aufgehört, mich über dieses Kind zu wundern, als es vor sechs. Jahren, im Lebensalter von etwa Vier, beim Einparkvorgang zu mir sagte, ich sollte aufpassen, da vorne wäre ein Pylone.
Außerdem fällt es mir leicht, ihm zu folgen, bei aller Sprunghaftigkeit. Eben noch musste ich das krakeelend hervorgebrachte Bratwurst-Lied ertragen (Mein Lieblingstier ist die Bratwurst), und in der nächsten Sekunde kommt er mit großer Ernsthaftigkeit daher.
„Wenn du also mit jemandem da gestanden und geredet hättest, hättest du die Bahn wohl verpasst.“
Ohne nachfragen zu müssen, weiß ich, dass er ein Ereignis von vor 25 Jahren meint.
„Sehr wahrscheinlich“, resümiere ich lächelnd.
Er rummst mich in eine Schlaglochpfütze.
Ich schreie kurz auf, und klammere mich mit beiden Händen fester an den Sitz.
“’tschuldigung.“ Seine Wangen erröten vor Verlegenheit.
„Schon gut.“ Ich lächele.
„Und wenn du die Bahn verpasst hättest, wärest du nicht überfahren worden“, spinnt er den Gedanken weiter, als wir an unserem Wagen stehen bleiben, und auf die anderen warten.
„Schon, aber so ist das mit allem im Leben, Nicolas.“
Wir blicken uns an.
Er ist zehn und ich sitze.
Wir sind gewissermaßen auf Augenhöhe, als er die schmalen Brauen zusammenzieht. Die kleinen Fäuste hat er auf die Beckenknochen gestemmt, auf der Unterlippe kaut er nachdenklich und der Wind lässt seine blonden Locken fliegen.
„Du meinst, dass immer alles anders wird, wenn man zum Beispiel zu spät kommt? Oder zu früh? Oder wenn man einen anderen Weg von der Schule nach Hause geht und einen Freund trifft?“
„Das meinst ja du.“
Die langen schwarzen Wimpern, die die Augen, die er von seiner Mutter hat, umrahmen, flattern verwirrt.
„Du meinst es. Ich meine damit, dass du selbst drauf gekommen bist, Nicki.“
"Aber es ist richtig?"
"Ja, jede Kleinigkeit verändert den weiteren Verlauf."
„Ah!“, er lächelt süß, und reibt mir über den Oberarm.
„Ich wollte dir den Ruhm dieser Erkenntnis nicht stehlen.“
Er kichert. Dreht sich zu den anderen, und rennt in seinen Bruder, um mit ihm zu balgen.
Als wir kurze zeit später, auf zwei Autos aufgeteilt, Richtung Hausboot zurückfahren, als wir an der Ampel stehen, lege ich eine Hand auf den in einer Jeans steckenden Oberschenkel meines Liebsten. Sein Blick huscht zu mir rüber. "Was grinst du so hintersinnig?"
"Ich hatte eben ein existentialistisches Gespräch mit einem Zehnjährigen."