9. Oktober 1991
„Ich muss so dringend pieseln.“
Entnervt guckt Jana in den Himmel, was ihr leicht fällt, denn das Auto hat kein Dach. Beziehungsweise ist es hinab gelassen.
Aber weil es so heiß ist, läuft die Klimaanlage zusätzlich auf vollen Touren. Sie haben sie auf den Fußraum gestellt, wo einige Flaschen Gatorade herum rollen, die meisten leer.
Das kann man machen, denn 1991 interessiert sich niemand fürs Energiesparen. Jana aktuell sowie nicht, obwohl sie sonst dauernd alles reflektiert. Aber die USA sind im Krieg, mitten drin, weil der Irak in Kuwait einmarschierte, und es sich abzeichnete, das man gerne für Öl kämpft. Doch so tat, als kämpfte man um Werte. Die der Freiheit, was nichts daran ändert, dass es sich scheiße anfühlt.
Krieg fühlt sich für Jana immer so an. Überflüssiger, menschenverachtender Mist, egal wo.
Es fühlt sich gerade an, als nahe das Ende der Welt.
Doch sie ist jung genug, sich zu weigern, darüber nachzudenken. Die Abwehrmechanismen funktionieren noch, was sie 30 Jahre später nicht mehr von sich behaupten kann, und außerdem sind es die 90er.
Das hedonistische Jahrzehnt überhaupt. Gordon Gecko, so widerlich er ist, ist auch ein Idol. Alle handeln an der Börse, jeder der ein paar Mark übrig hat, spekuliert. Der Freund ihrer Freundin wird gerade reich, obwohl er nie studierte, schon gar nicht Wirtschaftswissenschaften. Er wird reich bleiben und auch im 21. Jahrhundert jeden Crash überstehen.
Das weiß sie alles noch nicht.
Die 90er haben gerade angefangen, und es ist Krieg.
Im Irak.
Was ihr jetzt auch egal ist, denn sie muss pinkeln.
Flimmernd pflügt sich der Asphalt durch Mangroven, Sumpfzypressen und Mahagonigehölze. Die Hitze ist nass. Moskitowolken stehen im verschleierten Himmel.
„Hier kommt erst mal ne Weile nichts. Soll ich rechts ran, und du gehst in die Büsche?“
Sie lacht schallend und zeigt auf das Warnschild, an dem sie vorbeidüsen. Das ein Krokodil zeigt.
Das nächste zeigt einen Puma. „Hier? Vor Mokassinschlangen wird gewarnt. Auch ohne Schilder. Ich halte durch.“
Er grinst schief, tätschelt ihr Bein.
Das Bein.
Das Linke, das in einer schwarzen Bermuda steckt, die Füße in Vans mit Totenköpfen.
Dass sie diese Erinnerung mal haben würde, weiß sie auch noch nicht.
Wie es sich anfühlt, wie er ihr Bein streichelt. Das Knie.
Für einen Augenblick schiebt sie die Rayban ins Haar, klappt die Sonnenblende runter, um sich das Gesicht abzutupfen. „Ich halte durch“, entscheidet sie gepreßt, muss aber aufpassen, nicht zu lachen, weil das schlecht für die volle Blase wäre.
Plötzlich ist da ein Schild. Everglade-City, was sich als Witz entpuppen wird, als er einen Zahn zulegt.
Und bloß als Raststätte, ein Holzbau, ein Grill davor, und ein Semiole, der gerade einen Tisch draußen abräumt. Der Liebste bremst scharf ab, sie springt aus dem Wagen, ohne die Tür zuzuknallen, fragt den Indianer, was man damals noch sagen durfte, und hastet wie eine Irre aufs Klo.
An der Tür klebt innen ein Aufkleber, der allgegenwärtig ist.
Support our troops.
Erleichterung durchströmt sie. Plötzlich werden alle ihre Bewegungen wieder langsamer. Weniger fahrig, und als sie wenig später hinaus tritt in die gleißende Hitze, hält sie einen Augenblick inne, um ihn anzusehen. An einem der Holztische sitzt er, ein Bier vor sich. Und eines für sie steht daneben. Er strahlt sie an, so wie alles strahlt.
Es ist ihr Geburtstag, der fünfundzwanzigste. Im August dieses Jahres, vor zwei Monaten, hat sie vor dem Fernseher gesessen und einen Krieg das erste Mal in ihrem Leben live gesehen. Und sich gefürchtet, obwohl er so weit weg war. Nicht um ihr Leben, aber um ihre Werte. Um ihre Vorstellung von dem, wie die Welt zu sein hat.
Sie war noch lange nicht zynisch.
Noch lange nicht resigniert.
Lange noch nicht wütend.
Noch war sie jung, und die Verdrängungsmechanismen funktionierten bestens. Sie gibt sich einen Ruck und schwingt sich ihm gegenüber auf die Bank. Lacht.
„Happy Birthday, mein Herz“, sagt er und prostet ihr zu.
Sie klappt die Lider auf. Findet sich auf dem Boden vor einer Blechkiste im Wohnzimmer, in der Hand ein Polaroid. Mangrovenbäume im Hintergrund eines weißen Chrysler LeBarons, Baujahr 1990, und sie mitten drauf.
Sie sitzt, bei heruntergelassenem Verdeck, auf dem Rahmen der Frontscheibe, braungebrannt, braungebrannte Beine, muskulöse Waden, schmale Fesseln, Füße in Vans mit Totenköpfen. Im schulterlangen dunklen Haar, das sich in der Luftfeuchtigkeit kräuselte, die obligatorische Rayban der 90er. Wayfarer. Sie lächelt sich breit vom Polaroid her an.
„Weißt du noch“, ruft sie ins Arbeitszimmer. „Florida? Wie wir das Cabrio gemietet haben und einen Monat durch den ganzen Bundesstaat gegurkt sind?“
Sie hört sein lachen. „Es war Krieg!“, ruft er.
„Ja, und wir taten, als wäre es uns egal!“
Ohne dass er es sehen kann, nickt sie bedächtig. Es war Krieg, sie hatte wochenlange Schlafstörungen gehabt, weil es der Erste war, den sie Live im Fernsehen hatte sehen können.
Und sie noch nicht begriffen hatte, dass immer irgendwo Krieg war.