Immer, wenn ich das Meer sehe, überkommt mich das Fernweh.
Und wenn ich es nicht sehe, weil ich nun mal nicht am Meer lebe, überkommt mich die Sehnsucht nach dem Meer.
So zieht und zerrt es unaufhaltsam an mir, bis ich zum Meer fahre, was mich circa 2 Stunden kostet, und dann ist es nur die Nordsee.
Verdammt kalt.
Aber ich muss ja nicht rein.
Es reicht, dort zu stehen, und zu sehen.
Die Wellen rollen unaufhaltsam auf den Strand, ziehen sich zurück und kommen erneut.
Existieren.
Gleichförmigkeit der Ewigkeit.
Ein Ding, das sich niemals ändern wird.
Mag die Welt auch zugrunde gehen, die ganze oder nur die ganz eigene, das Meer bleibt konstant in seinem Rauschen.
Rollt sanft auf den Nordseestrand, brüllt andernorts gegen Felsen und ist das, was es ist:
Die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt.
Und so stehe ich da, geleitet von der Sehnsucht zum Meer, und bilde mir nicht eine Sekunde ein, die Sucht wäre gestillt, denn es ist nicht nur der Wind, der an mir zieht.
Es ist das Gieren und Lechzen nach dem, was dahinter liegt.
Hinter dem Meer.
Hinter dem Horizont.
Meist ist es England.
Was meinem Wohnort geschuldet ist, denn irgendwann stehe ich am Ärmelkanal. Und dieser ganze Zinnober von mir und dem Meer, die Sehnsucht und das Fernweh scheinen so eine Art genetisches Erbgut zu sein, denn meinem Vater erging es nie anders.
So ist die Erinnerung an meine Kindheit eine an England.
Eine Erinnerung an den Notfall-Übernachtungskoffer, den meine Mutter, vollzeitberufstätig, immer im Auto liegen hatte, denn eines war gewiss: Sagte mein Vater an einem x-beliebigen Freitag "Lass' uns doch mal ans Meer fahren", waren wir drei das ganze Wochenende weg.
Meistens in England.
Andauernd.
Ich erinnere mich an Freitage, an denen ich von der Schule abgeholt, zum Versicherungskonzern gekarrt wurde, in dem meine Mutter arbeitete , nur um danach die Autobahn Richtung Oostende oder Calais entlang zu brausen.
Im Sommer, in den großen Ferien, fuhren wir in halb Europa herum und endeten meistens in Häfen.
Ich habe jeden europäischen Hafen gesehen, wirklich jeden und wenn Papa heute sagt, erinnerst du dich, wir waren auch in Bilbao, zucke ich die Achseln und entsinne mich nur eines Hafens.
"Sie sehen alle gleich aus", maule ich noch heute.
Denn als ich älter wurde, nervte mich das.
Als ich noch älter wurde, fing ich an, es zu verstehen.
So zieht und zerrt es auch jetzt an mir.
Ich will zum Meer.
Egal welchem.
Am liebsten ein warmes.
Damit ich zu Fuß nach Sizilien gehen kann.