Fortsetzung von Vita / vorheriger Prompt.
„Wo wollen wir den anfangen?“
„Ganz am Anfang?“ Unbeholfen zupfte Phia am Gras neben sich.
„Es ist nicht eben so, dass ich mich zu Beginn mit Ruhm bekleckert hätte.“ Das Lächeln, das er ihr schenkte, war das eines Hasardeurs. Es kribbelte sie an den unmöglichsten Stellen. Flink sprang sie auf die Füße. „Wollen wir nicht lieber zurück?“
„Möchtest du?“
„Wir können doch wieder zurück?“ Ein Ausreißer in die Vergangenheit war zwar absurd, aber verkraftbar. Der Gedanke daran, hier stecken zu bleiben versetzte sie leicht in Panik
„Wir können überall hin Principessa.“ Er tappte wieder neben sich auf den Boden. Das Zögern schickte sie fort, sie ließ sich vergnügt ins Gras fallen. Wahrscheinlich war das nur ein Traum, und wenn sie erwachte, wäre alles vorbei. Bis dahin aber konnte sie die Sache ja genießen.
„Pass auf“, sagte sie. „Wenn das so weitergeht, wie das, wovon ich Zeugin wurde, wird mir eine wissenschaftliche Arbeit ohnehin niemand abnehmen. Lass‘ uns einen Roman daraus machen.“
„Liebchen“, seufzte er, „selbst das birgt Probleme. Im Allgemeinen geht ihr heute davon aus, dass ein Ritter so und so viel Leute im Gefolge mit sich herum schleppte. Mindestens einen Knappen.“ In einer Pause sah er Phia eindringlich an. „An bitterarme Ritter denkt niemand. In deinem Buch dort steht es aber doch drin, oder?“
Erst jetzt bemerkte Phia, dass die Tasche mit den Büchern neben ihr im Gras lag. Sie kramte eines mit rotem Einband heraus und blätterte darin herum. „Mit Gefolge steht hier nur Richard. Moment, ich lese vor. In dieser Zeit kam Richard ins Land, Asclettin Sohn. Wohlgestalt und von edlem stolzen Wuchs“, sie schaute auf. „Hier steht, dass er nicht reiten konnte.“
„Doch, doch. Er war ein eitler Pfau, der durchaus reiten konnte. Amatus, dieser Mönch, der das aufschrieb, bringt da was durcheinander. Es war Rollo, der Wikinger, der zu groß für ein Pferd war. Dieser Rollo, der erster Herzog der Normandie wurde… aber das muss ich dir ja nicht erzählen. Da dürfte doch auch stehen, dass ich…“
„Dass du allein gereist bist.“
„Eben.“ Er lächelte schmal. „Wenn du das schreibst, wird dir wieder jemand mit Knappen und Gefolge daherkommen, das du vergessen hast.“
Phias Schultern sackten hinab. „Ich weiß. Es steht in den Quellen, ich mache es richtig, und alle behaupten, es wäre falsch.“ Versonnen blickte sie auf die Buchstaben des Textes, den sie aufgeschlagen hatte. Dabei schlich sich ein Lächeln auf ihre Lippen. „Hier ist eine Beschreibung von dir.“
„Dann leg mal los.“
„Er war so groß, dass er die Größten überragte“, kicherte sie. „Sein Haar flachsblond, seine Schultern waren breit, seine Augen schienen Feuer zu sprühen.“
Neben ihr probierte er einen bösartigen Gesichtsausdruck, der sie zum Lachen brachte, aber sie proklamierte pathetisch weiter. „Sein Körper war gut gebaut, breit, wo es die Natur verlangte, und wohlgestalt und anmutig, wo weniger Breite genügt.“
Behände sprang er auf die Füße, und präsentierte sich grinsend und mit ausgebreiteten Armen von allen Seiten.
„So war er wohl proportioniert vom Scheitel bis zur Sohle“, deklamierte Phia.
Er lupfte sein Hemd und erlaubte ihr feixend einen Blick auf das formidable Sixpack. Sie lachten beide, aber sein Lachen hatte das Magische an sich, das sich in diesem Zitat einer zeitgenössischen Chronistin fand. Zwischen den Zeilen, wo das Papier weiß leuchtete, und im Grunde nichts stehen durfte. Von Natur aus unbezähmbar und niemandem in der Welt Untertan.
Mit vom Lachen gespannten Wangen sank er neben sie auf den Boden. „So ganz allein, wie es da steht, war ich allerdings nicht. Ich hatte einen Burschen bei mir, den ich anfangs recht mysteriös fand.“
„Warum?“
Leicht breitete er die Hände zur Seite aus. „Es fing alles mit Alba an.“
Wie er schaute sie zum Hof, aus dessen Schuppen ein verklärt dreinblickender Mann Ende vierzig torkelte, der sich die Hosenbänder zu schnürte. Phia fragte sich, ob es möglich wäre, ihren Begleiter selbst aus dem Donjon treten zu sehen, wo er doch neben ihr saß. Und wie alt er dann wäre. Ein Kind vielleicht?
„Alba Neville“, holte er sie aus ihren Gedanken. Er lockte einen der Raben, die seit einigen Minuten um sie herum staksten, und strich ihm über das schwarzglänzende Gefieder. Robert, dachte Phia. Ich werde ihn schlicht beim Vornamen nennen. „Wer ist diese Alba?“
Er wiegte den Kopf hin und her. „In den Chroniken steht nichts über sie, aber wir waren eben an ihrem Grab. Direkt neben meinem.“
„Alberada? Nein, nicht mal in der Sekundärliteratur. Da steht nur, dass sie das Mündel eines Girards de Buanalbergo war, blutjung, aber Letzteres ist nur geraten, weil sie so spät gestorben ist.“
In seinen Augen veränderte sich etwas. Ein Schmerz, hineingeschlichen, und mit einer Handbewegung fortgewischt. „So jung war sie nicht. Und sie war absolut nicht das, was sie zu sein scheint, wenn man euren Kram da liest. Alle nannten sie Alba. Sie war…“ Er grinste, als verlöre er sich in einer ausgesprochen witzigen Erinnerung. „Keine Ahnung, warum die Historiker aus einem Mädchen des Stammes Rollos so ein verhuschtes Ding machen. Ich hatte ohnehin vor, nach Italien aufzubrechen. Es kamen Nachrichten über verdammt gute Gelegenheiten. Doch Alba sorgte dafür, dass ich früher ging als geplant. Und dass ich diesen Vogel an meiner Seite hatte.“
„Ich würde die Geschichte gerne hören“, wisperte Phia. Ihre Hände fühlten sich eiskalt an, aber sie schob es auf die Aufregung.
Einen Moment schwieg er nachdenklich. Dann sprang er auf die Füße, streckte ihr die Hände entgegen, um ihr aufzuhelfen, was sich durch und durch sonderbar anfühlte. Er war so echt, und am liebsten hätte sie seine Hand nie wieder losgelassen. Er marschierte den Pfad entlang, fort vom Baronat seiner Familie.
„Wo gehen wir hin?“
Er legte den Finger auf den Mund, schob das Gestrüpp am Bankett beiseite und trat in den Wald. Vertrauensvoll ging Phia ihm nach. Es fühlte sich fast wie eines dieser Spiele an, die man als Kind spielte, und die im Grunde verboten waren. Weihnachtsgeschenke suchen. Oder in die verlassene Villa am Ortsende klettern. Mysteriös, dass sie nach nur wenigen Schritten an eine Hütte kamen, die ein wenig so aussah, als stünde sie nicht richtig auf dem mit Reisig bedeckten Boden. Die Frau, die darin wartete, sah aus wie aus einer noch älteren Zeit als die, in der sie hier waren. Vor allem wirkte sie nicht überrascht.
„Munin gab mir Bescheid“, las sie Phias Gedanken und deutete dabei auf den Raben, der neben ihnen in den Raum gestakst war, und der sich nun auf eine Stuhllehne im Alkoven setzte.
Hilfesuchend schaute Phia Robert an. Der zuckte die Schulter. „In wenigen Sekunden seziert sie deine Seele, offenbart deine geheimsten Wünsche und dreht sie einmal auf links. Aber es ist gut. Nichts wird geschehen, was dir gefährlich wäre.“
Die Frau, die nichts von einer Hexe an sich hatte, aber zweifellos eine war, setzte sich in die Mitte des einzigen Raumes und verstaute ihr weißes Haar unter einem Kopftuch. Sie fing an, Knöchelchen und anderen Plunder aus einem Lederbeutel auf dem Boden, vor einem Feuer, auszubreiten und zu sortieren. Es waren vor allem ihre raubtierhaften Bewegungen, die Phia verblüfften, und ihr ein wenig Furcht einflößten. Mittlerweile kauerte sie neben Robert, der sich zu der Hexe im Schneidersitz auf den Boden gesetzt hatte. Aus dem Sack nahm sie Blätter und Zweige, die sie ins Feuer warf. Der Geruch, der von den Flammen ausging, war zauberhaft und würzig. Er legte Phias geheimste Wünsche frei. Ihre Gefühle kreisten, immer schneller. „Huh!“, rief sie aus, als fürchtete sie zu fallen.
Robert nahm ihre Hand. Phia spürte, dass sie weg nickte. Doch er hielt sie auf. „Achte auf das Mädchen.“ Er strich ihr eine Haarsträhne so zärtlich hinters Ohr, dass sie erschauerte. „Alba Neville. Mit ihr fing alles an. Bist du bereit?“
Sie nickte.
Der Frühling zieht mit lauem Duft ins Land.
Ins grüne Land. Mit silbrigem Regen. Und sie dämmerte weg.