Ohne Navi wären wir als Kölner in Düsseldorf lost. Die Stadt bietet keinerlei Orientierungspunkte, sie verfügt über eigenartige Verkehrsführungen und seltsame frühhupende Autofahrer. Sie hupen schon, wenn man an einer roten Ampel steht.
Aber wir erreichen unser Ziel rasch und parken, dank des Schwerbehindertenparkausweises, gegenüber dem Holo-Café. Während ich aussteige, was ein recht langwieriger Vorgang ist, da der Liebste zuerst den Rollstuhl aus dem Heck des Autos holen muss, beobachte ich, wie eine Frau aus einem Mercedes steigt, die wie tapeziert aussieht.
Der Wagen, dem sie entklettert, steht an einer roten Ampel, anhupen inklusive. Sie trägt Rock und Oberteil in Mokkafarben, der Stoff über und über mit den verschlungenen drei Buchstaben bedruckt, die den Designer Yves Saint Laurent ausweisen (YSL). Oberteil und Rock allein reichen offenbar nicht aus, um ihren Wohlstand zu präsentieren - der Schal um ihren Hals ist ebenso markiert aber in den Farbtönen eine Nuance dunkler, gleichwohl Schuhe und Tasche.
Ich wundere mich nicht, ich weiß, wo ich bin, und im Holo-Café sehen die Leute wieder normal aus.
Ich mache es kurz: Wir haben das vorher noch nie gemacht und ich bin gespannt. Zu viert - Tom und ich, sowie die Jungs, entscheiden wir uns für das Spiel Dragon Fly, lassen uns die VR-Brillen aufsetzen, die Controller ans Handgelenk hängen, und erklären, wie man Pfeil und Bogen benutzt, und Gegenstände aufhebt, um sie gleichwohl zu nutzen.
"Manchmal seid ihr dann tot", erklärt die junge Mitarbeiterin. "Aber da stehen rote Phiolen mit Heiltränken. Die muss dann jemand anderes aufheben und auf die entsprechende Person werfen. Dann ist sie wieder aktiv."
Okay, nicken wir und verschwinden in einer mittelalterlichen Landschaft, wissend um die drohende Gefahr von Drachen, riesigen Monstern und gigantischen, mehr als einen Meter großen Spinnen. Sie alle gilt es zu bekämpfen.
Von außen sieht das zweifellos witzig aus. Vier Personen in einem kahlen Raum, versehen mit VR-Brillen, die eigenartige Bewegungen machen und noch merkwürdigere Dialoge führen.
Aber auch von innen, in der mittelalterlichen Landschaft, sind es die Dialoge, die mich oft derart zum Lachen bringen, dass ich regelmäßig von Drachen verbrannt werde und mit Heiltränken übergossen werden muss.
Das Gute ist: da wir innerhalb der mittelalterlichen Landschaft auf einem Plateau stehen - ab Level zwei auf einem Plateau in einer Burganlage, macht es auch nichts, dass ich im Rollstuhl sitze. Die kurzen Entfernungen, die ich duckend zurücklegen muss, kann ich auch mit zwei Controllern in der Hand zurücklegen.
Drachen kreisen über uns hinweg und bespeien uns mit Feuer. Riesige Monster holen mit ihren überdimensionierten Armen aus, um uns niederzustrecken - aber vor allem kommen gigantische Spinnen aus allen Ecken und Enden, um uns aufzufressen.
Zeitweise versuche ich, sie mit den Händen von meinen Beinen zu wischen, aber das funktioniert nicht - man muss sie mit dem Pfeil erlegen, was angesichts ihrer Menge nicht immer einfach ist. Schweißgebadet versuchen wir die Burg vor den Angriffen zu schützen, die Figuren abzuwehren.
"Ich bin tot!", ruft Jan. "Wirf mal einer einen Heiltrank!"
Okay, aber bei mir geht das nicht. Durch den Rollstuhl kriege ich den dazu nötigen Winkel nicht zustande, andere müssen das übernehmen, und da sich Jan von allen am meisten ins Zeug legt - oder mutiger ist - rufe ich in den nächsten 30 Minuten andauernd: "Kann mal jemand Jan heilen!"
Jan wird geheilt. Nach einer exzessiven Attacke von Seiten aggressiver Riesenspinnen, die mir den Weg zu einer Truhe mit Wunderwaffe versperren, ächze ich. "Ich glaub', ich bin jetzt auch tot. Jan, woran merkt man das?"
"Das steht dann da in der Luft. Da steht du bist gestorben!"
"Ach so!" Ich feuere drei Pfeile ab. "Ist das alles? Das wäre ziemlich cool, wenn das der einzige Unterschied zwischen Leben und Tod wäre."
"Du willst doch jetzt nichts Philosophisches anfangen?", ruft Tom.
"In der Truhe ist ein TnT-Fass!", keucht Nicolas. "Gib mir das!"
Aus dem Jenseits, der realen Welt, höre ich aus weiter Ferne das ekstatische Gelächter meiner Freundin, die unseren merkwürdigen Auftritt filmt.
Erschöpft kehren wir nach 30 Minuten ins echte Leben zurück und trinken Kaffee.
Die Männer, sprich die beiden sogenannten Erwachsenen und die Teenager, werden nachher noch ein anderes Spiel spielen, in dem sie in tiefer Dunkelheit, in einer Lore, durch enge unterirdische Kanäle fahren werden. "Gefahr droht ihnen von seltsamen Wesen", erläutert Steffi.
"Düsseldorfer?", fragt Tom.
"Nein, so Zombies, die schmatzend und schleimig durch die Wände brechen."
Diesem Spiel gucken wir, sie und ich, dann nur zu, und ja, es ist witzig, aber viel lustiger ist das Gekreisch, das aus einem anderen Spiele-Raum ertönt.
Zwei Frauenstimmen, kreischend und schreiend. Mittendrin: "Mach das weg! Mach das weg!"
"Sie spielen Dragon-Fly", mutmaße ich. "Die Spinnen."
Steffi nickt grinsend, aber mittlerweile tuscheln an allen Tischen die Besucher und schauen in die Richtung des nicht enden wollenden Geschreis.
"Die Spinnen", rufe ich zum Nachbartisch, an dem sich breites Grinsen ausbreitet. Nur eine junge Frau lacht nicht. "Welche Spinnen?" Panisch schaut sie von einem zum anderen.
Gekreischt wird weiter.
Mittlerweile pilgern alle Besucher dem Geschrei entgegen. In einem kahlen Raum stehen vier Personen, davon zwei weiblich, mit VR-Brillen herum und machen eigenartige pantomimisch anmutende Bewegungen mit den Armen.
Die Frauen Schreien ohne Unterlaß. Eine springt und tritt um sich.
"Du kannst die nicht tottreten!", ruft Steffi. "Das geht nur mit den Controllern! Pfeil und Bogen!"
Zurück am Tisch und mit Blick auf unsere Männer, von denen einer mittlerweile mit einem Dolch auf einen Zombie einhackt (was aussieht, als würde er mit Nichts stakkatoähnlich in die Luft hacken), sagt sie: "Ich hab mich beim ersten Mal genauso angehört. Du warst da vorhin ganz harmlos."
Ich zucke die Schulter. "Ich hab keine Angst vor echten Spinnen. Vielleicht nimmt man das mit ins Spiel."
Im Spiel unserer Jungs schmatzt und sabbert es.
"Wir hatten mal den Walking-Dead Flipper." Ich nippe an meiner Cola. "Ich konnte den nicht spielen, weil ich die Geräusche so eklig fand."
"Versteh ich. Thomas hat The walking dead mal eine Weile geguckt. Die Serie. Immer wenn es sehr eklig wurde, habe ich den Ton ausgemacht. Das war witzig. Musst du mal machen. Den Blödsinn ohne Ton gucken."
Nach weiteren zwanzig Minuten sitzen die Jungs erschöpft und verschwitzt bei uns am Tisch.
Am Ende fahren wir in die Nähe der Uni, um in einem sehr guten asiatischen Restaurant vegan zu essen.
Es ist ein weiter Weg durch die Düsseldorfer Dunkelheit im Feierabendverkehr.
Viel gehupt wird auch. Wir sind Lost, kommen aber heil an. Zu sechst sitzen wir am Tisch - keiner von uns ist Veganer, aber man muss sich einfach mal drauf einlassen. Der Liebste und ich kannten das Lokal bereits, weil wir dem Besitzer im Sommer unser selbstgezimmertes Zwei-Meter-Hochbeet überlassen, und statt Geld einen Verzehrgutschein angenommen hatten.
"Schön, dass ihr noch mal gekommen seid", sagt er, als er die Karten verteilt. "Und gleich mit der ganzen Familie."
"Es ist auch ganz großartig hier", schwärme ich und freue mich aufs Essen.
Ohne zu schmatzen.